Aus meinem Schaffen - Autor und Texter Lutz Sehmisch

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Aus meinem Schaffen

Aus meinem Schaffen
aus "Hölle ohne Himmel"

erschienen im dorise-Verlag 2011
Schattenspuren
 
 
Ich stehe am Fenster und schaue hinaus. Düstere Wolken überziehen den Himmel. Es herrscht graues und schmuddeliges Wetter. Mich lockt es nicht raus. Ich spüre die Ungemütlichkeit und frage mich, ob das nun ein gelungener Start ins neue Jahr sein soll. Heute ist der 2. Januar 1995. Ende vorigen Jahres hatte ich noch die Hoffnung, dass das neue Jahr nur Gutes bringen wird. Nach drei Jahren Wartezeit bekam ich endlich eine Einladung nach Halle zum Gimmritzer Damm Nr. 4. Unter dieser Adresse fand man vor sechs Jahren noch das MfS. Jetzt befindet sich dort eine Außenstelle des Bundesbeauftragten für die Stasiunterlagen.
 
 
Drei lange Jahre habe ich gebraucht, mich selbst zu überwinden. Einen schweren Kampf habe ich mit mir selbst ausgefochten. Zu tief sind die Wunden meiner Seele. Nach wie vor stellen sich mir viele Fragen zu den achtziger Jahren. Bis jetzt habe ich nur vage Vorstellungen und Vermutungen, wer mich damals überwacht hat. Nie konnte ich belegen, woher die Herren der Firma Guck und Horch die intimsten Details aus meinem Leben kannten. Die Antworten hoffe ich, in den Akten der Stasi zu finden. Ich will den Deckel zu diesem Kapitel meines Lebens zuschlagen, abschließen können und Ruhe finden. Mit der Akteneinsicht könnte das gelingen. Dann folgen wieder die Zweifel, das Richtige zu tun. Ich könnte zwar erfahren, warum und wer mir die Wunden zugefügt hat. Im selben Moment stellt sich mir aber die Frage, ob ich sie damit nicht wieder aufreiße. Ich habe große Angst vor den Schmerzen. 1992 habe ich mich endlich durchgerungen einen Antrag auf Akteneinsicht zu stellen. Als Betroffener geht das problemlos. Ich möchte die Antworten auf meine Fragen finden. Der Wunsch nach Rehabilitation oder Wiedergutmachung, wie bei vielen anderen Antragstellern, kommt in mir nicht auf.
 
 
Die Recherche und Aktenaufbereitung durch die Gauckbehörde muss so aufwändig gewesen sein, dass es noch einmal drei Jahre dauerte, bis ich Einsicht nehmen kann.
 
Heute am ersten Arbeitstag im neuen Jahr soll es geschehen. Es beginnt eine neue Woche. Unbekanntes und Neues liegen in der Luft. Es riecht verlockend und frisch. Aber wenn ich dagegen diese graue, stürmische Wirklichkeit sehe, fröstelt es mich. Ich bin mir nicht mehr sicher, die erwartete Gewissheit zu erlangen. Es grummelt gewaltig in meinem Bauch.
 
 
Gegen halbneun mache ich mich auf den Weg. Hetzen brauche ich nicht. Um zehn ist der Termin in Halle. An der Außenstelle der Gauckbehörde angekommen, stehe ich vor einem großen Bürogebäude aus Stahl und Glas. Es leuchtet rot und wirkt auf mich übermächtig. Es strahlt noch immer beängstigend den Geist seiner einstigen Herren aus. Zuvor habe ich diese Gegend noch nie gesehen. Je mehr ich mich dem Eingang nähere, desto furchteinflößender ist die Wirkung dieses Baues.
 
 
Mit zitternden Händen nestele ich das Einladungsschreiben aus der Tasche und reiche es dem Pförtner durch den schmalen Schlitz in der Glasscheibe. Er nickt verständnisvoll. Den Personalausweis will er sehen. Es dauert eine Ewigkeit, ehe ich dieses blöde Ding finde und ihm reichen kann. Dann summt die Tür neben mir. Ich folge der Handbewegung des Mannes hinter der Glasscheibe und betrete den Flur. Ich soll im Wartebereich Platz nehmen. Es komme jemand, der sich um mich kümmern wird. Noch bevor ich auf einem der Stühle Platz nehmen kann, drängt sich mir so ein ganz eigenartiger Geruch in die Nase. Ich rieche noch einmal bewusst. Jetzt erinnere ich mich! Es ist der gleiche muffige Geruch, den ich schon damals bei meiner Verhaftung in der sogenannten Leipziger Runden Ecke wahrgenommen habe. Ich finde merkwürdig, dass rund sechs Jahre nach dem Ende der DDR immer noch Stasidunst durch die Flure wabert.
 
 
Der freundliche Klang einer Frauenstimme, die meinen Namen nennt, reißt mich aus den Erinnerungen. Gott sei Dank! Ich folge der Frau durch einen langen, halbdunklen Flur. Sie führt mich in einen größeren Raum. Sie erklärt mir, dass dies der Leseraum sei. Sie bittet mich um meine Tasche und meine Jacke. "Ja aber ich habe da mein Schreibzeug drin."  " Das glaube ich Ihnen gern. Aber aus Sicherheitsgründen müssen Sie alle persönlichen Gegenstände abgeben. Es ist hier in diesem Raum verboten zu telefonieren oder zu fotografieren. Wenn Sie sich Notizen machen möchten, können Sie dies gern tun. Wir haben Ihnen einen Block und einen Stift am Platz bereitgelegt." Mir bleibt nichts, als mich zu fügen. Eine andere Frau verschwindet mit meiner Jacke und der Tasche wortlos nach nebenan.
 
 
Jetzt stehe ich an dem vorbereiteten Tisch. Dort liegt nur ein Schreibblock und ein Kugelschreiber, parallel zur Tischkante ausgerichtet. Neben dem Tisch steht ein kleiner Rollwagen mit einer Reihe Ordner. Mein Blick schweift durch den Raum. Vier weitere Plätze sehe ich. An einem sitzt ein älterer Herr versunken in die Tiefe des Ordners vor ihm. Der Kopf scheint so schwer zu sein, dass er ihn mit beiden Händen aufstützen muss.
 
 
Die Frau zeigt auf die Ordner und spricht ganz leise zu mir. "Dies sind die aufgefundenen Akten zu Ihrer Person. Sie haben jetzt den ganzen Tag bis 16 Uhr Zeit, darin zu lesen. Aus Datenschutzgründen mussten alle Namen von Personen, die mit Ihrem Fall nichts zu tun haben, geschwärzt werden. Die Decknamen der IM und hauptberuflichen MfS-Angehörigen sind aber lesbar. Wenn Sie Interesse an den Klarnamen haben, können Sie einen Antrag auf Recherche und Entschlüsselung der Decknamen stellen. Das Ergebnis senden wir Ihnen dann per Post zu. Auf dem bereitliegenden Block können Sie sich Notizen zu den Seiten machen, von denen Sie eine Kopie haben möchte. Wenn Sie zwischendurch noch Fragen haben, können Sie die gern stellen. Ich sitze die ganze Zeit dort vorn."
 
 
Viel war es ja nicht, was sie da grad erzählt hat. Aber ich verstehe nur Bahnhof. Irgendwie hatte ich mir das anders vorgestellt. Ich sitze jetzt hier vor meiner Stasiakte und kann darin blättern und lesen. Aber bitte schön unter Aufsicht, damit ja nichts fotografiert oder abgeschrieben werden kann. Ich fühle mich wie damals im Knast. Wenn ich Besuch empfangen durfte, dann nur unter Aufsicht. Automatisch dreht sich mein Kopf Richtung Fenster. Genau, … was ich jetzt erblicke, rundet das Bild noch ab. Die Fenster sind vergittert!
 
 
...



aus "... und dann kamen die Gedanken
gezeichnet ist der Augenblick"
Anthologie 25 Jahre Jerichower Schreibrunde
Hrsg. Lutz Sehmisch und Marion Krüger
Verlag BoD 2021


Ein einziger Mensch fehlt, und alle Welt ist leer

Wie Recht doch Albertus Magnus mit diesem Satz hatte, denkt Frank. Im Moment spüre ich diese leere Welt.
Es sieht aus, als ob er dasitzt, ohne etwas zu tun. Seine Augen scheinen genauso leer zu sein wie alle Welt. Komisch, dabei schwirren in seinem Kopf so viele Gedanken umher und verlangen viel von ihm ab. Die Gedanken wechseln sich immer wieder mit den letzten Bildern ab, die er von seinem eng vertrauten Freund Axel hat.
Dann stellt sich wieder die Frage: Wieso gerade Axel und wieso jetzt? Er ist doch nur acht Jahre jünger als ich. Ich kann es nicht begreifen. Der Tod hat ihm nur zwei Wochen Zeit gelassen, sich zu verabschieden. Es schmerzt furchtbar, dabei habe ich nie unsere Sterblichkeit, auch meine, bezweifelt. Aber sieht so das Ende aus?

Axel hat meine Seele berührt. Immer und immer wieder. Wie oft habe ich mit ihm über den Sinn des Lebens diskutiert, darüber was mich und ihn im innersten bewegt. Es fiel ihm nicht leicht, aber er hat mir auch seine schwachen Stellen gezeigt. Er war nicht der starke Kerl, war zart und zerbrechlich. Und dann wieder seine leuchtenden Augen, wenn er sich glücklich fühlte. Da ist das ermunternde Zwinkern seiner Augen, wenn ich ihm von Jonas erzählte.
Haben wir beide unser Leben damit verbracht, Buchstaben zu ordnen und immer wieder zu ordnen? Lyrisch klingende wohlgeformte Worte waren unser Werk, ließen den Blick in unser Innerstes zu.
Andere Menschen sterben, doch wir beide werden nicht sterben. Es ist undenkbar, dass Axel nicht existiert.
Wir sind eingeschlossen in unsere Erfahrungswelt und es gibt kein Fenster, kein Loch, keinen Riss, wo wir herausgucken können. Axel kann nicht sterben, wir können nicht sterben. Das Sterben gehört nicht zu unserem Leben.
Der Tod ist ein Irrtum, den ich aus dem Leben verbannen möchte, doch was immer ich auch anstelle, so irrational der Tod auch erscheint, mir bleibt nichts anderes übrig, als ihn rational zu akzeptieren.

Wir sind durchs Leben gerannt und gehetzt, als ob wir nicht wüssten, dass es endlich ist. Jeden Tag daran zu denken, dass es eines Tages vorbei sein wird, ist absurd. Wir haben uns aber auch bewusst gemacht, dass Besitz und Macht am Ende kein gelungenes Leben ausmachen. Gemeinsam haben wir erkannt, dass es Gedanken sind, die unser Leben im Hier und Jetzt reicher machen können.

Was bedeutet eigentlich intensiv leben, wirklich leben? Welche Erfahrungen möchte ich machen – auf welches gelebte Leben möchte ich einmal zurückblicken? Welche Termine und Aufgaben kann ich mit mehr Gelassenheit angehen – auch wenn sie im Augenblick so furchtbar wichtig erscheinen…?

Was ist der Sinn meines Lebens und wo kommt er her? Die Weltgeschichte bestimmt den Sinn, glaubte Hegel. Das Universum bestimmt den Sinn, glauben viele religiöse Menschen. Sind diese Begriffe nicht sinnlos? Friedrich Nitzsche, …  Ja ich glaube Friedrich Nitzsche war es, der glaubte, den Sinn geben wir selbst. Den Sinn meines Lebens kann nur ich finden.

So sehr ich den Tod fürchte, so hat er mir Dimension und Schärfe gegeben, meine Perspektive korrigiert und mich daran erinnert: Das Leben findet in diesem Augenblick statt. Nicht damals, gestern oder nächste Woche. Jetzt. Und jetzt.

Irgendwann kommt tatsächlich der Tag, an dem keine Zeit mehr ist. Die entscheidende Frage lautet: Was will ich sehen, wenn ich dann auf mein Leben zurückblicke?
Sind es nicht die Kleinigkeiten, die immer wieder aufs Neue glücklich machen. Dinge, die vielleicht albern wirken, über die ich mir kaum Gedanken mache. Und die trotzdem große Wirkung entfalten:
Jeder Mensch hat gute und auch schlechte Anteile in sich, die Welt ist nicht schwarzweiß. Bitterkeit macht mein Herz schwer und dunkel und der Einzige, der das spürt und darunter leidet, bin ich selbst. Warum also kostbare Lebenszeit mit Groll vergeuden? Lös die Konflikte und vergib.
Das Leben ist nur eine Aneinanderreihung von Augenblicken. Der Moment ist alles, was ich habe und der einzige Ort, an dem ich wirklich existiere. Ich lebe nicht in der Vergangenheit oder Zukunft, ich lebe jetzt.
Und irgendwann wird die letzte Seite vollgeschrieben sein. Irgendwann müssen alle gehen. Auch ich. Doch bis dahin bleibt Axel in meinem Herzen und damit auch in meinem Leben.

Plöltzlich klingelt es. Franks Gedankenschleife wird unterbrochen. Er ist froh darüber. Ihm rollen dennoch Tränen über die Wangen. Er öffnet die Tür. Jonas steht davor, sieht die Tränen und nimmt Frank in seine Arme. Er wird ihn auf Axels Beerdigung begleiten.


Texte in Anthologien
aus "die beleidigte Zeit"
Lebenskrisen - Gefahr und Chance

Anthologie
erschienen im dorise-Verlag 2021
Hrsg. Dorothea Iser
Pelikan e.V.

Zu schön, um wahr zu sein
 
Severe Acute Respiratory Syndrome – Coronavirus 2, die Abkürzung für SARS-CoV-2 … was sind das für Wortungetüme? So kompliziert  und doch geistern sie mir Tag für Tag durch den Kopf, allerdings in der Kurzform Coronakrise.
Es gelingt mir nicht, mich deren Wirkung zu entziehen. Manchmal will ich einfach nichts mehr davon hören. Es wird mir zu viel. Dann schaue ich aus dem Fenster und sehe eine menschenleere Straße – mitten in der Woche. Und da sind sie wieder, die Gedanken an die Coronakrise.
 
Das Virus hat mein Leben, hat unser aller Leben grundlegend umgekrempelt. Das Leben ist von Hundert auf Null ausgebremst. Keine Konzerte mehr, keine Lesungen, keine Bildungsabende, keine Versammlungen, kein Kino, kein Theater, kein Restaurantbesuch. Zum eigenen Schutz und zum Schutz der Mitmenschen nur die allernötigsten direkten Kontakte und vor allem ABSTAND.
 
Vor wenigen Tagen hätte ich mir das überhaupt nicht vorstellen können. Aber es geht! Ist das nicht irre?
Dabei habe ich mich schon vor ein paar Jahren von den Warnungen der Wissenschaftler überzeugen lassen, dass wir mit unserem umweltschädlichen Verhalten die Erde und unsere Lebensgrundlage selbst zerstören. Doch haben wir uns in unserem Verhalten dadurch ändern lassen? Nein, auch ich nicht. Und auf einmal kommt so ein kleines Virus und stellt die Welt und uns auf den Kopf. Ja, auf einmal kann auch ich
Dinge ändern, die vorher undenkbar waren. Mein Auto benutze ich zum Beispiel nur noch für das Allernötigste. Ich spüre, wie die
Luft sauberer wird. Kein Wunder, es fliegen kaum noch Flugzeuge und die Fabriken blasen auch keine Schadstoffe mehr in die Luft. Das Virus zeigt mir, es geht doch! Aber geht es wirklich? Was macht diese Situation mit mir? Tut mir das alles gut? Durch meine seelische Erkrankung fällt es mir nicht leicht, mit den veränderten Lebensumständen umzugehen. Hatte ich mich doch gerade erst daran gewöhnt, enge soziale Kontakte zu haben, meine Freunde auch zu umarmen, direkten körperlichen Kontakt annehmen zu können, genießen zu können. Und auf einmal ist alles weg,
darf nicht mehr stattfinden. Klar, zum Schutz meiner körperlichen Gesundheit und der meiner Freunde ist das wichtig. Aber es fehlt mir ein wichtiger Teil. Es fällt mir schwer, mein seelisches Gleichgewicht zu halten.
 
Mein Leben ist deutlich langsamer und ruhiger geworden. Und komisch, es scheint mir in gewisser Weise gut zu tun. Mir fällt es leichter, meine eigenen seelischen und körperlichen Grenzen zu erkennen und vor allem zu akzeptieren. Das fühlt sich richtig gut an. Keine Hektik, kein Druck mehr. Mir scheint es nicht nur alleine so zu gehen. Ich habe das Gefühl, dass es vielen gut tut, nicht mehr der Zeit hinterher zu jagen, immer schneller, immer mehr, immer höher …
Plötzlich haben wir Zeit gewonnen, wieder kreativ zu sein. Diese Kreativität bezieht sich dabei nicht nur auf die künstlerische Seite in uns. Wir haben sehr schnell neue Wege gefunden, in Kontakt zu treten. Wahnsinnig viele Dinge sind auf einmal digital möglich. Lehrer unterrichten ihre Schüler via Internet, Regierungen treffen per „Videoschalte“ aufeinander, viele kaufen immer mehr online ein, der Staat ermöglicht eine umfassende Digitalisierung, Familien treffen sich per Videotelefonie.
 
Mal ehrlich, das macht mir dann aber auch schon wieder Angst. Gerade die bisherigen Digitalisierungsschritte waren es, die unser Leben derart BESCHLEUNIGT haben. Und ich frage mich, was passiert nach der Krisenzeit? Die insbesondere in der Krise erzielten Fortschritte lassen sich doch nicht wieder rückgängig machen. Kann ich mit dem neuen Tempo noch mithalten? Oder lasse ich mich dann mitreißen. Jedoch nicht mitzumachen bedeutet für mich, nicht dabei zu sein, ausgeschlossen von der Gemeinschaft zu sein. Will ich das?
aus "... und dann kamen die Gedanken
gezeichnet ist der Augenblick"

Anthologie 25 Jahre Jerichower Schreibrunde
Hrsg. Lutz Sehmisch und Marion Krüger
Verlag BoD 2021

Ein einziger Mensch fehlt, und alle Welt ist leer

Wie Recht doch Albertus Magnus mit diesem Satz hatte, denkt Frank. Im Moment spüre ich diese leere Welt.
Es sieht aus, als ob er dasitzt, ohne etwas zu tun. Seine Augen scheinen genauso leer zu sein wie alle Welt. Komisch, dabei schwirren in seinem Kopf so viele Gedanken umher und verlangen viel von ihm ab. Die Gedanken wechseln sich immer wieder mit den letzten Bildern ab, die er von seinem eng vertrauten Freund Axel hat.
Dann stellt sich wieder die Frage: Wieso gerade Axel und wieso jetzt? Er ist doch nur acht Jahre jünger als ich. Ich kann es nicht begreifen. Der Tod hat ihm nur zwei Wochen Zeit gelassen, sich zu verabschieden. Es schmerzt furchtbar, dabei habe ich nie unsere Sterblichkeit, auch meine, bezweifelt. Aber sieht so das Ende aus?

Axel hat meine Seele berührt. Immer und immer wieder. Wie oft habe ich mit ihm über den Sinn des Lebens diskutiert, darüber was mich und ihn im innersten bewegt. Es fiel ihm nicht leicht, aber er hat mir auch seine schwachen Stellen gezeigt. Er war nicht der starke Kerl, war zart und zerbrechlich. Und dann wieder seine leuchtenden Augen, wenn er sich glücklich fühlte. Da ist das ermunternde Zwinkern seiner Augen, wenn ich ihm von Jonas erzählte.
Haben wir beide unser Leben damit verbracht, Buchstaben zu ordnen und immer wieder zu ordnen? Lyrisch klingende wohlgeformte Worte waren unser Werk, ließen den Blick in unser Innerstes zu.
Andere Menschen sterben, doch wir beide werden nicht sterben. Es ist undenkbar, dass Axel nicht existiert.
Wir sind eingeschlossen in unsere Erfahrungswelt und es gibt kein Fenster, kein Loch, keinen Riss, wo wir herausgucken können. Axel kann nicht sterben, wir können nicht sterben. Das Sterben gehört nicht zu unserem Leben.
Der Tod ist ein Irrtum, den ich aus dem Leben verbannen möchte, doch was immer ich auch anstelle, so irrational der Tod auch erscheint, mir bleibt nichts anderes übrig, als ihn rational zu akzeptieren.

Wir sind durchs Leben gerannt und gehetzt, als ob wir nicht wüssten, dass es endlich ist. Jeden Tag daran zu denken, dass es eines Tages vorbei sein wird, ist absurd. Wir haben uns aber auch bewusst gemacht, dass Besitz und Macht am Ende kein gelungenes Leben ausmachen. Gemeinsam haben wir erkannt, dass es Gedanken sind, die unser Leben im Hier und Jetzt reicher machen können.

Was bedeutet eigentlich intensiv leben, wirklich leben? Welche Erfahrungen möchte ich machen – auf welches gelebte Leben möchte ich einmal zurückblicken? Welche Termine und Aufgaben kann ich mit mehr Gelassenheit angehen – auch wenn sie im Augenblick so furchtbar wichtig erscheinen…?

Was ist der Sinn meines Lebens und wo kommt er her? Die Weltgeschichte bestimmt den Sinn, glaubte Hegel. Das Universum bestimmt den Sinn, glauben viele religiöse Menschen. Sind diese Begriffe nicht sinnlos? Friedrich Nitzsche, …  Ja ich glaube Friedrich Nitzsche war es, der glaubte, den Sinn geben wir selbst. Den Sinn meines Lebens kann nur ich finden.

So sehr ich den Tod fürchte, so hat er mir Dimension und Schärfe gegeben, meine Perspektive korrigiert und mich daran erinnert: Das Leben findet in diesem Augenblick statt. Nicht damals, gestern oder nächste Woche. Jetzt. Und jetzt.

Irgendwann kommt tatsächlich der Tag, an dem keine Zeit mehr ist. Die entscheidende Frage lautet: Was will ich sehen, wenn ich dann auf mein Leben zurückblicke?
Sind es nicht die Kleinigkeiten, die immer wieder aufs Neue glücklich machen. Dinge, die vielleicht albern wirken, über die ich mir kaum Gedanken mache. Und die trotzdem große Wirkung entfalten:
Jeder Mensch hat gute und auch schlechte Anteile in sich, die Welt ist nicht schwarzweiß. Bitterkeit macht mein Herz schwer und dunkel und der Einzige, der das spürt und darunter leidet, bin ich selbst. Warum also kostbare Lebenszeit mit Groll vergeuden? Lös die Konflikte und vergib.
Das Leben ist nur eine Aneinanderreihung von Augenblicken. Der Moment ist alles, was ich habe und der einzige Ort, an dem ich wirklich existiere. Ich lebe nicht in der Vergangenheit oder Zukunft, ich lebe jetzt.
Und irgendwann wird die letzte Seite vollgeschrieben sein. Irgendwann müssen alle gehen. Auch ich. Doch bis dahin bleibt Axel in meinem Herzen und damit auch in meinem Leben.

Plöltzlich klingelt es. Franks Gedankenschleife wird unterbrochen. Er ist froh darüber. Ihm rollen dennoch Tränen über die Wangen. Er öffnet die Tür. Jonas steht davor, sieht die Tränen und nimmt Frank in seine Arme. Er wird ihn auf Axels Beerdigung begleiten.


aus "wenn es morgen wird lass es regnen"

Anthologie
erschienen im Engelsdorfer Verlag 2015
Autoren- und Literaturkreis "Wilhelm Müller"



Wenn es Nacht wird
lass den Mond scheinen

wenn Stille einkehrt
lass die Eulen rufen

wenn es Morgen wird
           lass es regnen



 
 
Herbstzauber
 
Das Jahr neigt sich. Düstere Wolken ziehen am Himmel dahin. Starke Bäume wiegen sich im Takt des Windes. Blätter fallen. Tanzend suchen sie sich ihren Weg. Ihre Farben malen ein Gemälde voller Wildheit des Lebens.
 
Der Wind wird stärker. Der Sturm bläst sich zum Orkan auf. Die Blätter werden in einem Strudel an den Boden gezwungen, um sie in einem Wirbel wieder hinaufzureißen. Das Blätterkarussel dreht sich immer schneller. Diese Naturgewalt zieht mich in ihren Bann.
Ich schaue dem Treiben zu. Das Windmonstrum bewegt sich auf mich zu. In meinem Kopf wirbeln Gedanken, chaotisch wie diese Blätter, hin und her.
 
Ich bleibe angewurzelt stehen, wie die Bäume. Bin unfähig dem Wirbel auszuweichen. Die Blätter kreisen wild um mich herum. Ich erkenne ihre Farben nicht mehr. Der Wind peitscht sie in mein Gesicht. Ich spüre sie schneidend und brennend auf meiner Haut. Sie reißen alte Narben auf. Die Wunden sind tiefer und heftiger als je zuvor. Ich kann mich dem Laubwirbel nicht entziehen. Er hält mich in seiner Mitte gefangen.
 
Einsam und verlassen stehe ich auf dem Weg in mitten dieses Sturmes, sehe keinen Ausweg aus dem Strudel. Ich kann nur noch abwarten, bis er schwächer wird und ich mich befreien kann. Ob ich es noch schaffe, so lange aufrecht stehenzubleiben?
 
 

 
 
 
 
 
 
Geheimnisvolle Energie                         (Uxmal)
 
der Klang des Windes
umschlingt geheimnisvolle Mauern
Maracas rauschen wie das Meer
Laute aus dem Wald
Trommeln wiegen sich
kommen und vergehen
beschwörender Gesang füllt
den Platz mit Magie
im Licht der Fackeln huschen Schatten
in den Mauernischen tanzen die Geister der Maya
erzählen von ihrer Welt
ich spüre die Kraft dieses Ortes
Natur und Mensch sind eins
voll innerem Frieden und Ruhe
blicke ich am Morgen wie ein König
durch aufsteigenden Nebel über die Baumwipfel
in das Antlitz der Götter.

 
 
Angst
 
 
Hunger treibt Menschen
 
durch Häuser in Trümmern
 
ohrenbetäubender Lärm

Bomben explodieren
 
Staub und Tränen
 
verschmieren das Gesicht
 
der Körper blutig

sengende Sonne
 
lähmt das Leben
 
Tyrannen töten es
 
Kinderaugen suchen Schutz
 
schauen mich flehend an
 
aus "Reimanns Erben
Tatsächlich leuchtet der Himmel grün"

Anthologie
erschienen im dorise Verlag 2019
Hrsg. Dorothea Iser
Pelikan e.V.
Ausgeredet
 
 
Da waren sie wieder. Leichtfertig ausgesprochen. Die berühmten drei Worte, die in jeder Beziehung fallen.
 
„Wir müssen reden!“, sagte Thomas.
 
Wie ich diese drei Worte hasse. Aus Erfahrung hasse.
 
Was soll das bedeuten: "Wir müssen reden!"?
 
Was kann herauskommen, wenn zwei reden? Im Duett, als Kanon oder wie? Reden im Plural hat noch nie gemeinsame Lösungen ermöglicht. Wir müssten uns zuhören. Wir müssten uns mehr respektieren. Reden kann nur einer.
 
Ich kann mit ihm reden. Er kann mit mir reden. Einander zuhören müssten wir, und über die Worte des anderen nachdenken.
 
„Wir müssen reden!“, das löste für mich bisher immer jedes Beziehungsproblem – nämlich gänzlich.
 
„Wir müssen reden!“, das war die übliche Einleitung zu jeglicher Trennung.
 
„Dann rede!“, sagte ich wütend.
 
Thomas blickte mich mit seinen großen grünen Augen an. Diese Augen!
 
Die gleichen Augen, in die ich vor einiger Zeit eingetaucht war und ertrank.
 
„Ich will die Trennung!“
 
So schnell hatte bisher noch keiner ausgeredet.




 
 
 
 
 
Winter

kahle Zweige;
weites Schweigen;
klare Luft;
über frischem Schnee;
 

darunter neues Leben,
Träume,
still und verborgen,
eine Welt voll Sonne.
   

aus "Ich sterbe, wenn ich nicht schreibe"

Anthologie zum Brigitte Reimann Jahr 2013
erschienen im dorise Verlag 2013
Hrsg. Dorothea Iser
für die Literaturvereine
Friedrich-Bödecker-Kreis in Sachsen-Anhalt e.V.
und Pelikan e.V.
Wann sterbe ich?
Ich lese die Überschrift des Schreibaufrufes »Wenn wir schreiben sind wir stark«. Ich zweifele an dieser Aussage. Um sie bestätigen zu können, fehlt mir die Schreiberfahrung. Und überhaupt, wer ist Brigitte Reimann? Der Name sagt mir nichts. Bin ich vielleicht zu jung? Nein, das kann mit meinen 53 Jahren nicht sein.
Je öfter ich zu den Themenabenden des Autorenkreises Burg fahre, um so mehr erfahre ich über sie. Ich verstehe langsam, warum ich nicht viel von ihr kenne. Ich bin in Dessau geboren, dort aufgewachsen. Sie gehört zu meiner Elterngeneration. Während sie auf dem Höhepunkt ihrer Schaffenskraft war, ging ich noch zur Schule.
Das darf mich nicht entschuldigen. Mein Interesse an dieser Frau ist geweckt. Für manche Menschen ist sie zur damaligen Zeit bestimmt eine streitbare Person gewesen. Je tiefer ich in ihr Leben eintauche, umso mehr bewundere ich sie. Irgendetwas zieht mich in ihren Bann. Ich frage mich ständig, wie sie es hinbekommen hat, als Schriftstellerin von der DDR-Führung und von der Arbeiterschaft gleichermaßen anerkannt zu werden. Aus meinen eigenen Lebenserfahrungen weiß ich, dass dies ein Ding der Unmöglichkeit ist. Ich glaubte als junger Mensch auch an die Idee des Sozialismus. Die Idee hätte meiner Meinung nach nur ergänzt werden brauchen. Dafür wollte ich einstehen und war darin extrem leidenschaftlich. Ich stieß an die Grenzen des Systems. Den Widerstand bekämpfte ich mit Gewalt. Völlig konträr zu dem, was ich wollte. Es gab für mich nur schwarz oder weiß.
Solche Gefühlsschwankungen habe ich in Brigitte Reimanns Leben nicht entdeckt. In ihrem verlief auch nicht alles problemlos. Sie ging aber mit den ihr im Weg stehenden Widrigkeiten anders um als ich. Sie lebte und genoss, egal was um sie herum passierte und getratscht wurde. Ich empfinde diese Eigenschaft als eine besondere Gabe. Ich hatte sie nicht. Habe sie zumindest nicht gelebt. Nachdem im Stasigefängnis mein Willen mit Gewalt gebrochen wurde, habe ich mich jahrelang nur noch abgeduckt. Wollte bloß nicht auffallen. Angst regierte mein Leben. Bis zur Wende 1989. Das glaubte ich jedenfalls. Zehn Jahre später bricht nämlich mein Leben wie ein Kartenhaus zusammen. In den Therapien erkenne ich, dass sich meine »Überlebensstrategie« tief in mir eingebrannt hat. Ich habe in den 90er Jahren wieder nur getan was andere verlangten. Neu ist, dass ich als Belohnung selbst ein Stück Macht abbekam. Das ist Vernebelungstaktik.
Eine Therapeutin im Jerichower Fachkrankenhaus bedrängt mich, wo der Rebell in mir geblieben sei. Ich verstehe sie und ihre Fragen überhaupt nicht. Ich verstehe auch nicht, warum plötzlich all meine bisher erbrachten Leistungen nichts mehr Wert sind. Ich fühle mich als Aussätziger, gemieden und nicht beachtet. Ich sehe keinen Sinn in meinem Leben. Stunden des Grübelns füllen schmerzvoll meine Tage. Am Ende fange ich an, all das aufzuschreiben und schließe mich der Jerichower Schreibrunde an. Ich schreibe mir alles von der Seele, veröffentliche mein erstes Buch. Keine große Literatur, aber das Schreiben hat mich befreit.
Mit dem Buch sind zwangsläufig Lesungen in der Öffentlichkeit verbunden. Es fällt mir bis heute nicht leicht, vor vielen Menschen vorzulesen. Jedes Mal schwingt die Angst mit, nicht angenommen zu werden, Rede und Antwort stehen zu müssen, für das, was ich tue. Ich erlebe in der Wirklichkeit dem entgegen überwiegend Mitgefühl, Anerkennung für meinen Mut und Zuspruch. Viele Menschen bitten mich weiterzuschreiben. Sie warten schon auf die nächsten Texte von mir. Es ist ein schönes Gefühl, bringt Spannung in mein Leben.
In der Auftaktveranstaltung zum Brigitte-Reimann-Jahr 2013 in der Burger Stadthalle erlebe ich den Kunstverein Hoyerswerda. Die drei Hauptakteure brennen vor Leidenschaft für Brigitte Reimann. Einfühlsam und beeindruckend erzählen sie aus ihrem Leben. Es sind Details, die mich berühren. Sie regen ununterbrochen meine Gedanken an und machen mir Gänsehaut. Ich verstehe erst gar nicht wieso. Dann wird mir immer klarer, dass Brigitte Reimanns Leben viele Ähnlichkeiten mit meinem Leben hat. Das war mir bislang überhaupt nicht bewusst. Der monatelang in meinem Kopf um Brigitte Reimann hängende Nebel verzieht sich zunehmend. Ich empfinde sie als einfach und geradlinig. Sie hat sich nicht verbogen, wie ich. Sie genoss das Leben und hat dabei nie ihre Ziele aus den Augen verloren.
Die Eindrücke, die in dieser Veranstaltung auf mich einstürmen, machen mir Kopfschmerzen. Trotzdem befreien sie mich. Ich habe in den letzten beiden Jahren erlebt, wie viel Spaß mir das Schreiben bereitet. Manchmal greife ich schon gesellschaftskritische Themen auf, setze mich mit den Problemen der Gesellschaft auseinander. An diesem Abend in Burg habe ich erfahren, was das Leben der Brigitte Reimann wirklich ausgemacht hat. Seit diesem Abend weiß ich auch, dass ich unbedingt weiterschreiben muss. Ich trage in mir für mich wichtige Lebenserkenntnisse und Botschaften, die ich den Menschen mitteilen möchte. Sie sollen sie erfahren, damit diese Welt eine bessere werden kann. Brigitte Reimann hat mit ihrem Leben und Werk dazu beigetragen, dass in mir der Rebell wieder erwacht ist. Und ich weiß jetzt, dass »ICH STERBE, WENN ICH NICHT SCHREIBE«  

aus "Weiß blüht Mohn in der Dämmerung
Jerichower Auslese"

Anthologie
erschienen im dorise-Verlag 2012
herausgegeben für den Pelikan e.V.
von Dorothea Iser und Günter Hartmann

Farben sind Wesen.

Das Licht tanzt durch die Gefühlswelt der Farben und wir als fühlende Wesen bewegen uns mit ihnen und treten in einen lebendigen Dialog. wir tauchen ein in das vielfältige Reich der Farben und erfahren uns in neuen Zusammenhängen: Wie wirken Farben auf mich? Was fühle ich mit/in ihnen? Wo in meinem Leben hab ich farbloses Leben hingenommen? Was ist meine Wahrheit? Wie möchte ich Farbe bekennen? Wie kann ich ihre heilende Wirkung entdecken und nutzen? Träume, Geschichten, Poesie, Farbräume entstehen; unser Leben ist bunt und reich. Farben erklingen, schmecken, duften, finden Worte.
Jeder Betrachter nimmt das Bild anders auf. Es kommt auf seine Einstellung an. Manche Farben wirken dabei mehr als andere. Wir Menschen sind vielfältig und verschieden. Sich zur Vereinzelung zu bekennen, heißt Farbe zu bekennen.
Farbe bekennen bedeutet auch, sich in die Karten schauen zu lassen. Davor fürchte ich mich, wie viele Menschen. Dies freiwillig zuzugeben fällt schwer, denn wir wollen ja offen und transparent erscheinen. Wir meinen uns nichts zu Schulden haben kommen lassen und daher nichts zu verbergen zu haben. Menschen halten sich nicht aus böser Absicht verdeckt, sondern haben Schwierigkeiten damit, sich zu „zeigen“. Man möchte nichts falsch machen. Man möchte keine Rechenschaft ablegen müssen, weshalb man so ist oder sich so verhält. Doch auf Dauer macht solch ein Leben krank. In einer jahrelangen Psychotherapie habe ich gelernt, diese Erkrankung zu akzeptieren und zu stoppen.
Es erfordert viel Mut und Kraft, aus dem Schatten des Lebens herauszutreten. Wenn ich Farbe bekenne, zeige ich mich mit all meinen Vorlieben und Abneigungen. Ich werde dadurch greifbar und somit angreifbar.
Farbe bekennen, heißt das Leben zu riskieren. Mein erstes Buch ist ein Versuch aus dem Dunkel zurückzukehren und das Leben wieder zu riskieren. Ich weiß, dass jemand, der das Leben liebt, sich von selbst mit Farben umgibt. Jemand, der im Leben gefestigt und geerdet ist, wird stabil genug sein, um Farbe zu bekennen und braucht sich nicht von der Meinung anderer abhängig zu machen. Der Umgang mit den Reaktionen auf dieses Buch wird mir zeigen, wie gut mir das schon gelingt.
Ich zeige mein Herz, aber auch meine Ecken und Kanten, weil mir bewusst ist, dass ich es ohnehin nie allen Recht machen kann. Ich hoffe mit dem Buch auf Menschen zu treffen, die herzlich, offen und authentisch sind, so wie ich es sein möchte.
Ich danke allen lieben Menschen und Freunden um mich herum, die mich in den letzten Monaten bei meinem Vorhaben unterstützt und begleitet haben.






Drahtseil                                         
Sommersonne
laufe auf einem Drahtseil
im Gleichgewicht.
Noch bevor der Wind sich dreht
und Schnee die Erde bedeckt
Schüsse!
Schmerz!
Das Drahtseil schwingt
bin verraten und verkauft.

Eiseskälte brennt auf der Haut
ertaste alte Wunden
wende mich ab, schau nach vorn
und zweifle.
Zwing mich weiter
zum stehen bleiben keine Zeit.
Kann nicht gehen wohin ich will,
nicht machen was ich will.

Schnee verweht
unter der matten Oberfläche
mein Spiegelbild.
Ich erschrecke.
Unverblendet und glasklar spricht es,
andere drängen sich vorbei.
Ich wanke,
dünnes Seil schwingt,
                falle … in den Spiegel.

Texte und Gedichte
Prosatexte
einzelne alleinstehende Erzählungen
Sommertraum
Ich erwache aus einem tiefen Schlaf und nur langsam entlässt mich die sanfte Hand eines süßen Traumes, erfüllt von Liebe und Zärtlichkeit.
Ich halte meine Augen noch geschlossen. So kurz an der Schwelle zum Erwachen, möchte ich den Traum weiter genießen.
Ich atme tief ein, und entlasse begleitet von einem leisen Seufzer die Luft aus meinen Lungen. Die letzten Bilder meines Traumes beginnen zu verblassen.
Träume von Liebe und Geborgenheit habe ich in letzter Zeit des Öfteren.
Dabei durchströmt mich ein ungewohntes Glücksgefühl. Es beginnt mit einem kribbeln im Zentrum meiner Brust, und wandert dann in den Bauch. Wohlige Wärme breitet sich aus. Das Gefühl ist so neu und anders für mich, wie eine neue Erfahrung eben. Doch ist es ein Traum oder ist es Realität?
Ich drehe mich vorsichtig auf den Rücken. Dabei halte ich meine Augen noch immer geschlossen.
Es ist angenehm warm. Die Luft fühlt sich an, wie eine warme, kuschelige Decke. Ich öffne - vorsichtig blinzelnd - endlich meine Augen.

Ich schaue in einen fast wolkenlosen Himmel. Er strahlt in den schönsten Blautönen.
Ich liege auf einer grünen Wiese, die mit bunten Feldblumen übersät ist. Bienen und Hummeln umschwärmen die Blumen. Das duftende Gras ist an einigen Stellen schon meterhoch. Ich fühle mich wie in einem schützenden Nest.
Über mir hängen die Äste der Bäume. Der Schatten schützt mich vor der Sommersonne. Vereinzelte Sonnenstrahlen dringen durch das Blätterdach, als hätten sie sich verlaufen. Mit einem Lächeln begrüße ich sie. Sie tanzen auf meinem nackten Bauch hin und her.
Die Äste tragen grüne Blätter und weiße, süß duftende Blüten. Der leichte Wind bringt sie in Bewegung. Dabei löst sich hin und wieder eines der vielen Blütenblätter, und segelt tanzend mit dem Wind davon.
Durch das Blätterdach geht ein Raunen. Es hört sich an wie Regen. Aber irgendwie auch wie ein Rascheln, das mich wiederum an ein Flüstern erinnert. So, als wenn die Bäume eine Melodie summen. Leise und nur für mich. Es ist die Melodie dieses Sommers. Meines schönsten Sommers.

Mein rechter Arm droht einzuschlafen. Doch ich möchte ihn nicht bewegen, denn der Grund des Problems liegt dort. Genau auf meinem Arm. Es ist ER, mein Mann.
Ich betrachte IHN. Mein Blick wandert über sein Gesicht. Bleibt an seinen Lippen, die ich so gerne küsse, hängen. ER lächelt, obwohl ER schläft. Ich ahne, wovon ER träumt. Es sind bestimmt die Träume, die auch ich seit Tagen schon habe.
Eine Haarsträhne hängt in seinem Gesicht. Ich streiche sie sanft zur Seite. Plötzlich öffnen sich seine Augen und ER mustert mich mit einem fragenden, leicht verschlafenen Blick. ER lächelt immer noch, und seine blauen Augen leuchten wie der Himmel. Ich lächele zurück. Wir müssen nichts sagen. Wenn wir uns einander tief in die Augen sehen, spüren wir, dass wir uns lieben.
Wir fühlen es auch, wenn wir uns eng umschlungen in den Armen liegen. Wir halten uns gegenseitig fest, damit der Andere nicht verloren geht.

Das ist Liebe. Meine Sommerliebe.


Endlich Urlaub

Endlich Urlaub. Aber was macht man am besten in dieser kostbaren Zeit? Viele haben das Geld, sehr weit in die Ferne zu reisen. Früher habe ich auch oft ferne Länder besucht. Aber jetzt habe ich das Geld dazu nicht. Ehrlich gesagt, zurzeit ist mein Geld so knapp, dass ich gedenke oder viel mehr gedenken MUSS, zu Hause zu bleiben. Doch was stelle ich nun mit dieser vielen freien Zeit an, in der andere das Leben genießen? Zum Beispiel unter Palmen ein köstliches eisgekühltes Getränk zu sich nehmen oder gerade in der Hängematte dösen - so wie ich.
Sicher denkt ihr, was denn nun? Eben sagtest du noch, du verreist NICHT.
Werde ich auch nicht. Ich habe mir nur eine kleine Palme gekauft - steht auf dem Balkon. Eine Hängematte verankert - die passt hier gerade so rein - und ich nippe an einem wunderbar eisgekühlten Getränk.
Es ist himmlisch hier und gleich werde ich im nahe gelegenen Strandbad schwimmen gehen. Ich sage mir, glücklich ist der, der sich glücklich macht! Seht ihr das auch so? Ich kann in ferne Länder reisen und trotzdem nicht glücklich sein. Viele hetzen sich ab, nur um später anderen erzählen zu können, dass sie auch da und dort gewesen sind. Sie kommen nicht selten mit einer übertriebenen Bräune am ganzen Körper zurück. Nur um zeigen zu können, dass sie in südlichen Gefilden gewesen sind. Später sehen sie verfaltet aus, weil das viele "in der Sonne brutzeln" der Haut geschadet hat. Ich könnte sagen, dass ich neidisch bin. Nö, nicht, dass ich wüsste. Und was macht ihr so, ihr Daheimgebliebenen?


Gefühlschaos

Jedes Mal, wenn ich an ihn dachte, hatte ich vielfaches Kribbeln im Bauch. Ich war schon öfter verliebt gewesen, doch dieses Mal war es anders. Ich wäre sogar bereit gewesen für ihn zu sterben. Das war aber totaler Quatsch und ich wusste das auch. Aber eines wusste ich nicht: wie würde er reagieren, wenn ich es ihm sagen würde? Oder ob ich es ihm überhaupt sagen sollte. Klar denken konnte ich da vielleicht noch gar nicht, schließlich war ich erst 16. Doch dieses Gefühl überrumpelte mich einfach. Das schlimmste aber war, dass genau dieser Junge mein aller bester Freund war!! Als wir uns kennenlernten, wusste ich noch nicht was Liebe ist. Oder war ich doch schon reif genug, um so etwas zu wissen? Ich war so furchtbar durcheinander, dass ich kaum noch wusste, was ich überhaupt fühlte.
AM NÄCHSTEN TAG IN DER SCHULE
Heute würde ich genauso wie jeden Tag mit ihm Nachhause gehen und ganz normal mit ihm reden und genauso wie immer lachen, oder nicht? Würde ich es überhaupt schaffen mit ihm zu reden? Am liebsten wäre ich zuhause geblieben! Ich hatte mir doch geschworen, mich nicht in ihn zu verlieben! Ich durfte es einfach nicht. Jungen dürfen sich nun mal nicht in Jungen verlieben. Was waren das für Gefühle, die ich nicht kontrollieren konnte? Ich bemühte mich normal zu bleiben und schaffte es auch bis zu einem Punkt in der Straßenbahn. Ich hielt es nicht mehr aus! Ich sagte ihm was ich fühlte, wie verwirrt ich war und wie gerne ich es doch verschwinden lassen wollte. Doch statt zu antworten, schaute er mich genauso verwirrt an wie ich ihn und kam immer näher. Ich wusste nicht was ich machen sollte und schaute ihn an. Er kam jedoch noch näher. So nah, dass ich seinen warmen Atem spüren konnte. Er war mir noch näher als sonst, wenn wir rumalberten. Er schloss seine Augen und seine Lippen näherten sich meinen. Ich schloss ebenfalls die Augen und ließ zu, dass sich unsere Lippen trafen und zu einem zärtlichen Kuss verschmolzen.
Vielleicht waren wir beide noch zu jung, vielleicht hatten wir beide noch nicht begriffen, was Liebe bedeutet, doch eins wussten wir:
Zusammen würden wir es herausfinden.


Streicheleinheiten

So ein Quatsch, dieses Getue um Streicheleinheiten.
Nein, er brauchte keine Streicheleinheiten, ganz sicher nicht. Streicheleinheiten waren allenfalls etwas für Weicheier, solche die man mit Samthandschuhen anfassen musste, solche, die gleich Tränen in die Augen bekamen.
Zu denen gehörte er aber mit Sicherheit nicht, er war hart im Nehmen, da konnten sich manche ein Stück von abschneiden. Er sagte es allen, die es wissen wollten oder auch nicht wissen wollten.
Dann eben nicht, dachten diese - jedem das Seine - und ließen ihn links liegen.
Nach der Schule ging er also allein nach Hause, den ganzen langen Weg, allein. Jeden Tag. Eine ganze Ewigkeit lang. Aber mit sechszehn sind Ewigkeiten noch nicht so arg lang. Das Ende der Ewigkeit hieß Roland und er schob eines Tages sein Fahrrad neben ihm her, knackte seinen Panzer.
Und bald dachte er nochmals genau über Streicheleinheiten nach, sein Sinneswandel war offensichtlich.
Weichei, so ein Quatsch.


Liebesbrief

Weißt Du noch, wie wir im Sommer 17 im Gras lagen und der Sommer nicht enden wollte? Weißt Du noch, wie wir die Wolken zählten und uns vorstellten, wir würden mit ihnen weiterziehen? Weißt Du noch, wie wir wie Grillen zirpten und im Schilf wie Enten herumflogen? Weißt Du noch, wie wir uns nach dem Bad im See gegenseitig abtrockneten und uns nackt in die Badetücher einwickelten? Weißt Du noch, wie ich zitterte, als ich Dir in jenem Sommer zum ersten Mal mit der Hand über den Bauch und dann über den Po strich? Weißt Du noch, als Du mir sagtest, dass dieser Sommer nur ein Sommer bleiben würde? Weißt Du noch, als wir uns im Spätsommer 17 zum letzten Mal ins Gras legten und ein Bild für die Ewigkeit schufen? Weißt Du noch?



Zwischen den Welten?

Sonntagmorgen, ich stehe im Bad vor dem Spiegel. Geduscht und wieder angezogen, sprühe ich mir eine neue Parfümprobe auf die Haut meines Halses.
Fertig, jetzt aber an den Frühstückstisch. Auf dem Weg dorthin plötzlich Schwindel, kalter Schweiß, Herzrasen, vor meinen Augen verschwimmt alles … Ohnmacht.
Ich wache auf der Couch liegend im Wohnzimmer wieder auf. Neben mir steht ein Mann in orangener Kleidung. Wie ich da hingekommen bin, weiß ich nicht. Der Mann sticht mir eine Kanüle in den Arm und schließt eine Flasche mit Flüssigkeit an. Diese drückt er einem zweiten orangenen Mann in die Hand und hört mich mit einem Stethoskop ab. An meinem Arm pumpt eine Blutdruckmanschette.
„Können Sie aufstehen?“ höre ich den Stethoskopmann fragen. „Wir stützen Sie auf der Treppe und bringen Sie zum Auto.“ Es geht nur mühsam. Meine Beine sind wie Pudding. Auf dem Hof verlassen mich die Kräfte, aber die Männer halten mich und heben mich auf eine fahrbare Trage. Mit verschwommenem Blick sehe ich noch, wie sie mich in einen Krankenwagen schieben. Ich bin erschöpft, schließe meine Augen. Als das Fahrzeug anruckt höre ich noch ein Martinshorn.
Ich wache wieder auf und sehe mich selbst.  Ich liege auf einem Bett. Viele Schwestern und Ärzte stehen daneben. Sie hantieren an Apparaturen. Merkwürdig. Angst habe ich jedoch nicht.
Ich habe auch keine Schmerzen, fühle keine Schwerkraft. Ich bin leicht und ich schwebe. Ich spüre meinen Körper nicht mehr, scheine von ihm losgelöst zu sein.
Bilder der Vergangenheit huschen vorbei. Blitzschnell tauchen sie auf und sind wieder weg. Da ist meine Schwester, meine Eltern, meine Mathelehrerin, das Stasigefängnis, mein Sohn.
Ich fliege wie ein Vogel über eine weite bunte Blumenwiese in den Bergen. Dann ein Tunnel. Er scheint sehr kurz zu sein, denn es wird schnell wieder hell, sehr hell. Am Ende des Tunnels komme ich in einen riesigen Raum mit goldenem Gras, überall Licht, kein Schatten. Das Licht kommt von innen, von außen, von überall. Vor mir erscheint ein Lichtwesen, kann nicht erkennen ob Mann oder Frau, sehe auch kein Gesicht. Das Wesen strahlt nicht nur Licht, sondern auch eine seltsame friedvolle Ruhe aus. Es lädt mich ein, ihm zu folgen und sagt zu mir: „Wenn du es willst, hast du es jetzt überstanden.“
Ich spüre, in eine andere Sphäre hineingeboren zu werden. Ich bin fasziniert von dieser Dimension, bin körperlos und frei. Nichts materielles mehr. Es gibt keine Zeit. Es gibt nur diesen Moment und gleichzeitig die Ewigkeit. Ich sehe keinen Gott, keinen Jesus oder etwas Religiöses, aber da ist etwas. Es ist ein tiefes Vertrauen da, dass alles in Ordnung ist, dass ich wirklich beschützt bin, ich getragen werde. Ich empfinde und erfahre diese göttliche Instanz. Ich fühle seine unglaubliche Macht von Liebe.
Ich höre seine beruhigende Stimme: „Ich weiß, dass du gern bei mir bleiben würdest. Aber deine Zeit ist noch nicht gekommen. Kehre um und fürchte dich nicht, ich bin mit dir. Weiche nicht, denn ich bin dein Gott. Ich stärke dich, ich helfe dir auch, ich erhalte dich durch die rechte Hand meiner Gerechtigkeit.“
Im selben Moment höre ich Stimmengewirr um mich herum. Es ist laut und hektisch, keine Ruhe mehr. Ich spüre Schläge im Gesicht. Eine Frauenstimme wiederholt dabei immer wieder die Frage: „Hören Sie mich?“ Plötzlich ruft sie: „Schnell, schnell wir verlieren ihn, 50 Milliliter Natriumbikarbonat.“ Ich kann die Augen immer noch nicht öffnen. Zu der Dunkelheit kommt auch wieder die endlose Ruhe.
Eine Krankenschwester lächelt mich an. Ich bin aufgewacht. Ich sei auf der Intensivstation, sagt sie.

Ich habe einen Blick über den großen Berg in die jenseitige Welt genommen. Seitdem habe ich keine Angst mehr.



Santiago de Chile

Ich betrachte den Zettel in meiner Hand und bemerke, dass sie zittert. Es ist kalt hier drin, zu kalt. Neben mir steht Sophie. Sie sieht aus, als hätte sie bis jetzt keine Sekunde geschlafen. Auch sie hält einen Zettel in der Hand. Hinter uns drängen sich Menschen. Die Schlange scheint nicht abzureißen. Und das um diese Uhrzeit. Ich blicke in den tiefschwarzen, sternenlosen Himmel hinaus und denke an zu Hause. Ob alle wohlauf sind?
Die Schlange rückt langsam ein Stück vorwärts, und ich kann nun einen Blick auf den Schalter vor mir werfen. Wie Figuren in einem Puppentheater sitzen zwei Männer in Uniform in einem Glaskasten und mustern abwechselnd die Bildschirme vor ihnen und diejenigen, die es bis zum Anfang der Schlange geschafft haben. Neben dem Glaskasten steht breitbeinig und mit seltsam schräg aufsitzender Mütze ein Soldat. Er hält ein automatisches Gewehr in seinen Händen und blickt finster drein. Chile klingt in mir immer noch nach Militärjunta.
Die Schlange bewegt sich wieder. Ich spüre ein Kribbeln auf der Haut, gleich ist es soweit. Ein lautes Piepen aus dieser Richtung ließ mich den Blick zu Sophie wenden.
“Toll, ich habe hier Empfang.”
Sophie kramt in ihrer Handtasche nach dem Handy, fischt es mit zwei Fingern heraus und fährt routiniert in einem Zickzack Muster über das Display.
“Bestimmt will jemand wissen, ob wir schon gelandet sind.”
“Next please!”, ruft eine der Figuren im Glaskasten. Ich greife meine Reisetasche, gehe auf den Uniformierten zu und reiche ihm meinen Pass und den Zettel.
“Your first time here?” Ich nicke. Er betrachtete mich einen Moment und wirft dann einen Blick in meine Papiere.
“Welcome!”
Während er dies sagt, lässt er schwungvoll den Stempel auf eine der noch leeren Seiten meines Passes knallen. Ich werfe dem Mann am Schalter ein breites Lächeln zu und greife meine Tasche.
“Next please!”
Sophie ist an der Reihe. Sie ist nervös. Der Uniformierte bemerkt es zum Glück nicht und lässt sie passieren. Nichts wie weg, denke ich und bin froh, dass die Schiebetür sich hinter uns schließt.






Ein einziger Mensch fehlt, und alle Welt ist leer
 
Wie Recht doch Albertus Magnus mit diesem Satz hatte, denkt Frank. Im Moment spüre ich diese leere Welt.
 
Es sieht aus, als ob er dasitzt, ohne etwas zu tun. Seine Augen scheinen genauso leer zu sein wie alle Welt. Komisch, dabei schwirren in seinem Kopf so viele Gedanken umher und verlangen viel von ihm ab. Die Gedanken wechseln sich immer wieder mit den letzten Bildern ab, die er von seinem eng vertrauten Freund Axel hat.
 
Dann stellt sich wieder die Frage: Wieso gerade Axel und wieso jetzt? Er ist doch nur acht Jahre jünger als ich. Ich kann es nicht begreifen. Der Tod hat ihm nur zwei Wochen Zeit gelassen, sich zu verabschieden. Es schmerzt furchtbar, dabei habe ich nie unsere Sterblichkeit, auch meine, bezweifelt. Aber sieht so das Ende aus?
 
Axel hat meine Seele berührt. Immer und immer wieder. Wie oft habe ich mit ihm über den Sinn des Lebens diskutiert, darüber was mich und ihn im innersten bewegt. Es fiel ihm nicht leicht, aber er hat mir auch seine schwachen Stellen gezeigt. Er war nicht der starke Kerl, war zart und zerbrechlich. Und dann wieder seine leuchtenden Augen, wenn er sich glücklich fühlte. Da ist das ermunternde Zwinkern seiner Augen, wenn ich ihm von Jonas erzählte.
 
Haben wir beide unser Leben damit verbracht, Buchstaben zu ordnen und immer wieder zu ordnen? Lyrisch klingende wohlgeformte Worte waren unser Werk, ließen den Blick in unser Innerstes zu.
 
Andere Menschen sterben, doch wir beide werden nicht sterben. Es ist undenkbar, dass Axel nicht existiert.
 
Wir sind eingeschlossen in unsere Erfahrungswelt und es gibt kein Fenster, kein Loch, keinen Riss, wo wir herausgucken können. Axel kann nicht sterben, wir können nicht sterben. Das Sterben gehört nicht zu unserem Leben.
 
Der Tod ist ein Irrtum, den ich aus dem Leben verbannen möchte, doch was immer ich auch anstelle, so irrational der Tod auch erscheint, mir bleibt nichts anderes übrig, als ihn rational zu akzeptieren.
 
Wir sind durchs Leben gerannt und gehetzt, als ob wir nicht wüssten, dass es endlich ist. Jeden Tag daran zu denken, dass es eines Tages vorbei sein wird, ist absurd. Wir haben uns aber auch bewusst gemacht, dass Besitz und Macht am Ende kein gelungenes Leben ausmachen. Gemeinsam haben wir erkannt, dass es Gedanken sind, die unser Leben im Hier und Jetzt reicher machen können.
 
Was bedeutet eigentlich intensiv leben, wirklich leben? Welche Erfahrungen möchte ich machen – auf welches gelebte Leben möchte ich einmal zurückblicken? Welche Termine und Aufgaben kann ich mit mehr Gelassenheit angehen – auch wenn sie im Augenblick so furchtbar wichtig erscheinen…?
 
Was ist der Sinn meines Lebens und wo kommt er her? Die Weltgeschichte bestimmt den Sinn, glaubte Hegel. Das Universum bestimmt den Sinn, glauben viele religiöse Menschen. Sind diese Begriffe nicht sinnlos?                  
Friedrich Nitzsche, …  Ja ich glaube Friedrich Nitzsche war es, der glaubte, den Sinn geben wir selbst. Den Sinn meines Lebens kann nur ich finden.
 
So sehr ich den Tod fürchte, so hat er mir Dimension und Schärfe gegeben, meine Perspektive korrigiert und mich daran erinnert: Das Leben findet in diesem Augenblick statt. Nicht damals, gestern oder nächste Woche. Jetzt. Und jetzt.
 
Irgendwann kommt tatsächlich der Tag, an dem keine Zeit mehr ist.                                                                                                         
Die entscheidende Frage lautet: Was will ich sehen, wenn ich dann auf mein Leben zurückblicke?
 
Sind es nicht die Kleinigkeiten, die immer wieder aufs Neue glücklich machen. Dinge, die vielleicht albern wirken, über die ich mir kaum Gedanken mache. Und die trotzdem große Wirkung entfalten.
 
Jeder Mensch hat gute und auch schlechte Anteile in sich, die Welt ist nicht schwarzweiß. Bitterkeit macht mein Herz schwer und dunkel und der Einzige, der das spürt und darunter leidet, bin ich selbst. Warum also kostbare Lebenszeit mit Groll vergeuden? Lös die Konflikte und vergib.
 
Das Leben ist nur eine Aneinanderreihung von Augenblicken. Der Moment ist alles, was ich habe und der einzige Ort, an dem ich wirklich existiere. Ich lebe nicht in der Vergangenheit oder Zukunft, ich lebe jetzt.
 
Und irgendwann wird die letzte Seite vollgeschrieben sein. Irgendwann müssen alle gehen. Auch ich. Doch bis dahin bleibt Axel in meinem Herzen und damit auch in meinem Leben.
 
Plöltzlich klingelt es. Franks Gedankenschleife wird unterbrochen. Er ist froh darüber. Ihm rollen dennoch Tränen über die Wangen. Er öffnet die Tür. Jonas steht davor, sieht die Tränen und nimmt Frank in seine Arme. Er wird ihn auf Axels Beerdigung begleiten.
November. Viel Gefühl. Draußen ist es seit ein paar Tagen etwas düster, die Uhren sind bereits umgestellt und in den Kaufhäusern findet sich schon die erste Weihnachtsdeko. Draußen fallen die Blätter von den Bäumen. Ich halte kurz inne und lasse die letzten Wochen und Monate Revue passieren. Etwas Melancholie. Aber nicht zu viel. Das gewisse Maß, aus dem anschließende Zufriedenheit wächst. Heute möchte ich mit euch ein paar meiner momentanen Gedanken und Gefühle dazu teilen.
 
Wahrscheinlich wissen vor allem mein Verlobter und meine engsten Freunde, dass ich ein sehr emotionaler Mensch bin. Einer, der auch gerne und viel nachdenkt. Manchmal zu viel. Einerseits. Andererseits bin ich absolut kein Kopfmensch. Lasse mich lieber von meinem Gefühl leiten. Da wo andere Sicherheit brauchen, weil ihr Verstand ihnen zuflüstert, da höre ich auf meine Intuition und nehme auch das Risiko in Kauf. Natürlich falle ich damit hin und wieder mal auf die Schnauze. Aber wisst ihr was? Wenn ich die Wahl hätte, würde ich lieber stolpern, anstatt auf derselben Stelle stehen zu bleiben.
 
So ist es auch mit meinem Neustart vor fünf Jahren gewesen. Von einem Moment auf den Anderen wagte ich damals den Schritt nach Magdeburg. Seitdem habe ich eine Hand voll Menschen kennengelernt, die mein Leben wesentlich bereichern und für die ich sehr dankbar bin. Vor drei Jahren traf ich auf meine große Liebe. Den Schritt in ein neues Leben habe ich keinen Moment bereut. Nach dreißig Jahren habe ich zu einer unbändigen Lust auf Leben zurückgefunden.
 
Dabei wusste ich bis vor acht Jahren noch nicht was ich von Neuanfängen halten soll, hatte Angst vor Veränderungen. Ich habe sie sogar gehasst. Mittlerweile funktioniert mein innerer Kompass immer besser. Ich habe aber auch begriffen, Neuanfang bedeutet nicht automatisch, dass irgendetwas schlecht gewesen ist. Oder dass nun ab-so-lut alles anders gemacht werden muss. Menschen verändern sich, doch zu einem gewissen Maß bleiben wir auch gleichzeitig gleich. Mir ist wichtig, ich zu sein, eins zu sein mit meinen Wünschen und Bedürfnissen. Ich will nicht im Dunkeln nach ihnen suchen müssen. Ich will sie fühlen, will sie leben.
 
Es ist befreiend loszulassen. Nur wer los lässt, hat bekanntlich beide Hände frei. Dabei schöpfe ich aus schönen Erinnerungen auch Energie. Doch ich darf nicht klammernd daran festhalten. Vielleicht ist es ja sogar so, dass wir in unserem Leben eigentlich nur Neuanfänge aneinanderreihen.
 
Mein nächster Neuanfang wird die gemeinsame Wohnung mit meiner Liebe und unsere Heirat sein.
 
Woher ich das weiß?
Nennt es, wie ihr wollt.
Intuition. Herz. Gefühl.
 
 

 
           
 
  
 
Gefühle leben auf
 

Es ist November. Ein Monat, der mir mehr als einmal Gänsehaut macht. Es geschieht so viel in einem Monat November. Erinnerungen werden wach, Erinnerungen an selbst Erlebtes und an Überliefertes. Insbesondere rückt da der 9.November als Deutschlands „Schicksalstag“ in meinen Blickwinkel. Er markiert den Beginn der ersten deutschen Republik, den Pogrom gegen die jüdische Bevölkerung und den Fall der Berliner Mauer.
 
Ich habe die Gelegenheit, Badsheva Dagan persönlich kennenzulernen. Sie ist eine beeindruckende Autorin, Psychologin aus Tel Aviv und Holocaust-Überlebende. Ich hänge genau wie alle anderen Besucher im Rempter des Magdeburger Domes an ihren Lippen, will kein Wort verpassen, das sie aus ihrem Buch liest.  „Gesegnet sei die Phantasie, verflucht sei sie.   -  Erinnerungen an „Dort“  ´´
 
Noch nie habe ich eine Augenzeugin kennengelernt, die von ihren Erlebnissen so emotional berichtet hat. Ich habe mir den Reichsprogrom hautnah vorstellen können, habe selbst die Angst gespürt.
 
Es fällt mir nicht schwer, denn gestern waren es die Juden, die Roma, die Schwulen, die politisch Andersdenkenden, heute kommen noch die Ausländer hinzu.
 
Im heutigen Deutschland spüre ich immer deutlicher eine Doppelmoral. Homosexuelle werden vor dem Gesetz gleichgestellt, aber im selben Moment werden sie auf der Straße angepöbelt, gejagt und krankenhausreif geprügelt.
 
Der Staat nimmt hunderttausende Flüchtlinge auf, genehmigt aber gleichzeitig die Lieferung von Kriegsgerät in deren Herkunftsregionen, profitiert dabei sogar selbst über das Steuersystem vom wirtschaftlichen Erfolg der Rüstungsindustrie.
 
Ich schäme mich dafür, dass Deutsche am Kriegstod fremder Völker verdienen und die obersten zehntausend immer reicher werden.
 
Vor kurzem habe ich in der Magdeburger Stadtbibliothek eine Autorenlesung erlebt, in der mit dem Buch „Kindheit in Trümmern“ sehr eindrucksvoll von den Folgen des 2.Weltkrieges für deutsche Kinder berichtet wurde. Ich habe es als Warnung an alle heute Lebenden verstanden und ich hätte es mir in den letzten 29 Jahren nie träumen lassen, dass das vereinigte Deutschland eine derartige Spaltung zwischen arm und reich erlebt. Die heute lebenden deutschen Kinder kämpfen zwar nicht mit Kriegserlebnissen, dafür aber mit immer größer werdender Armut, die keine ausreichende Bildung erlaubt, keine gesunde Ernährung ermöglicht und in der Folge krank macht.
 
Wie euphorisch war ich als am 9.November 1989 die Mauer fiel. Ich habe wirklich an ein besseres, gerechtes Deutschland geglaubt. Die aktuellen Bilder aus Deutschland belehren mich eines Anderen. Enttäuschung wächst in mir, manchmal steigert sie sich zur Wut.
 
Wut ist ein Lebensgefühl, aber für mich kein guter Lebensberater. Das musste ich in den letzten zehn Jahren der DDR leidvoll am eigenen Leib spüren.
 
Deshalb will ich meine Ängste überwinden. Meine Devise lautet „aufstehen“ und wieder für eine lebenswerte Welt kämpfen.
 
Mein Schatten
 
 
Wie fühlt sich eine Depression an?
 
Die meisten Menschen würden nie wagen diese Frage zu stellen. Viel zu groß ist die Angst vor den eigenen seelischen Abgründen, über die wir keine Kontrolle haben. Das Wort Depression nimmt sowieso niemand gerne in den Mund. Es erinnert mich immer an Harry Potters >“Du weißt schon wer.“<. Ein Wort, dass Unbehagen verbreitet, ein Wort, sie zu knechten, sie alle zu finden, ins Dunkel zu treiben....Ja...du weißt schon. Sobald man das Wort auf der Zunge hat, scheint es kein Zurück mehr zu geben zu einem >“Sie hat nur etwas Stress in letzter Zeit“< oder einem im Singsang vorgetragenen:>“Auf Regen folgt Sonnenschein!“<. Aber zurück zum Thema. Wie fühlt ES sich an? Nun du kennst doch sicher Peter Pan und seinen Schatten. Sein Schatten spielt Fange mit ihm, will einfach nicht das tun, was von einem Schatten verlangt wird und piesackt Peter. Schlussendlich muss er angenäht werden. Für mich fühlt sich eine Depression so an. Ich habe keinen Schatten, der, wie man von ihm erwarten würde, ein stiller Begleiter durch mein Leben ist, sondern ein außerordentliches Großmaul! Er ist ein schwieriger Zeitgenosse. Sehr leicht reizbar, aufbrausend, rachsüchtig, eifersüchtig und gerissen. Immer muss er sich einmischen. Er flüstert mir Dinge ins Ohr, bringt mich auf düstere Gedanken und bringt mich dazu falsche und verletztende Dinge zu sagen und zu tun. Wenig später erkenne ich mich selbst nicht mehr. Hätte ich ohne ihn so reagiert? Ich rede mir ein: >“Niemals!“<, in einem letzten verzweifelten Versuch den Glauben an mich und meine guten Seiten festzuhalten. Aber sicher bin ich mir da nie.
 
Mein Schatten raubt mir den Blick auf die Sonne oder auf meine Mitmenschen. Er stiehlt mir Wärme, bis es um mich kalt und düster ist. Doch sein liebstes Spiel ist der Abgrund. Dabei lässt er mich am Rand zu einem großen Loch balancieren und wartet darauf, dass ich unaufmerksam bin, dass ich die Balance verliere. Das ist sein Auftritt. Er nimmt Anlauf und stößt mich wie ein Ziegenbock mit seinen Hörnern in den Abgrund. Ich hasse den Abgrund. Dort bin ich meinen tiefsten Ängsten und meinen größten Selbstzweifeln schutzlos ausgesetzt. Es erscheint unmöglich, einen Weg hinaus zu finden. Ich bin gefangen in meinem Selbsthass und je länger ich dort bin, desto stärker wird mein Schatten und es wird immer schwieriger den hinterlistigen Gedanken, die er mir einimpfen will, keinen Glauben zu schenken. Ich könnte noch ewig weiter erzählen, denn meinem Schatten fällt ständig etwas Neues ein, um mich auf die Probe zu stellen. Aber ich will dich nicht anlügen. Man kann lernen damit umzugehen. Man muss lernen damit umzugehen, um nicht unterzugehen. Man muss lernen sich selbst wieder zu lieben, die kleinen Dinge im Alltag zu genießen und sich zu öffnen. Denn Isolation ist Futter für den Schatten. Es bedeutet eine tägliche Gradwanderung am Abgrund. Es ist anstrengend, nervenaufreibend und immer wieder verliert man das Spiel. Doch wenn man offen ist und darüber redet, strecken sich Hände in den Abgrund, die dir helfen, dich wieder aufzurappeln. Warum ich diesen Text schreibe? Um ehrlich zu sein, ich weiß es nicht. Vielleicht hoffe ich, dass ich nicht alleine bin mit diesem Gefühl(wobei Singular in diesem Fall so harmlos klingt. Eher eine tosende Welle aus Gefühlen, die in einem ohrenbetäubenden Lärm über dir zusammenbricht und dich unter ihr vergräbt). Vielleicht hoffe ich jemanden zu helfen, sich nicht alleine damit zu fühlen. Vielleicht tue ich es aber auch einfach, um mir selbst zu helfen. Vielleicht auch, um dir einen, wenn auch nur kleinen, Einblick zu geben, wie es sich anfühlt: Das Leben von meinem Schatten und mir.
Ausgeredet
 
 
Da waren sie wieder. Leichtfertig ausgesprochen. Die berühmten drei Worte, die in jeder Beziehung fallen.
„Wir müssen reden!“, sagte Thomas.
Wie ich diese drei Worte hasse. Aus Erfahrung hasse.
Was soll das bedeuten: "Wir müssen reden!"?
Was kann heraus kommen, wenn zwei reden? Im Duett, als Kanon oder wie? Reden im Plural hat noch nie gemeinsame Lösungen ermöglicht. Wir müssten uns zuhören. Wir müssten uns mehr respektieren. Reden kann nur einer.
Ich kann mit ihm reden. Er kann mit mir reden. Einander zuhören müssten wir, und über die Worte des anderen nachdenken.
„Wir müssen reden!“, das löste für mich bisher immer jedes Beziehungsproblem – nämlich gänzlich.
„Wir müssen reden!“, das war die übliche Einleitung zu jeglicher Trennung.
„Dann rede!“, sagte ich wütend.
Thomas blickte mich mit seinen großen grünen Augen an. Diese Augen!
Die gleichen Augen, in die ich vor einiger Zeit eingetaucht war und ertrank.
„Ich will die Trennung!“
So schnell hatte bisher noch keiner ausgeredet.
Herbstlicher Spaziergang
 
 
Das Jahr neigt sich dem Ende zu. Die Luft ist geschwängert von Herbststürmen. Düstere Wolken am Himmel ziehen meine Aufmerksamkeit auf sich. Starke Bäume wiegen sich im Takt des Windes. Die Natur zeigt ihre Gewalt, zieht mich aber auch in ihren Bann. Bunte Blätter fallen von den Bäumen. Tanzend suchen sie sich ihren Weg nach unten. Ihre bunten Farben malen ein  harmonisches Gemälde voller Wildheit des Lebens. Ich möchte meinen Blick nicht mehr von diesem farbenfrohen Spiel der Kräfte lassen.
 
 
Plötzlich wird der Wind stärker, der Sturm will sich zum Orkan mausern. Die Blätter werden in einem Strudel an den Boden gezwungen, um sie kurz darauf in einem Wirbel wieder hinaufzu reißen. Die Blätter werden in dem Strudel immer schneller. Das Blätterkarussel scheint aber immer schneller zu werden und droht außer Kontrolle zu geraten.
 
 
Ich schaue dem Treiben zu und habe das jähe Gefühl, dass sich dieses Monstrum auf mich zu bewegt. Mir ist unheimlich. In meinem Kopf wirbeln Gedanken genauso chaotisch wie diese Blätter hin und her. Was passiert da eigentlich gerade? In der bunten tanzenden Vielfalt der Blätter habe ich bis eben noch das Leben in seiner unendlichen Vielfalt gesehen, Freude empfunden. Doch der auf mich zukommende Laubstrudel macht mir jetzt Angst.
 
 
Ich bleibe wie angewurzelt, wie die Bäume, stehen. Bin unfähig dem Wirbel auszuweichen. Und ehe ich mich versehe, hat mich der Strudel auch schon erfasst. Die Blätter kreisen wie wild um mich herum. Sie sind so schnell, dass ich ihre Farbenvielfalt von vorhin gar nicht mehr erkennen kann. Der Wind peitscht sie in mein Gesicht. Manche scheinen scharfkantig zu sein. Ich spüre sie schneidend und brennend auf meiner Haut. Sie reißen alte Narben auf. Die Wunden sind tiefer und heftiger als je zuvor. So gern ich es täte, kann ich mich dem Laubwirbel nicht mehr entziehen. Er hat mich vollständig erfasst und hält mich in seiner Mitte gefangen.
 
 
Einsam und verlassen stehe ich auf dem Weg in mitten dieses Sturmes, sehe keinen Ausweg aus dem Strudel. Ich kann nur noch abwarten, bis sich der Sturm so weit legt, dass ich mich befreien und auf den Heimweg begeben kann. Hoffentlich dauert er nur so lange, wie ich in ihm noch aufrecht stehend bleiben kann.
 
 
Ist schon komisch, denke ich, jetzt befällt mich hier draußen das gleiche panische Gefühl wie in meinem Leben.
9.April 2012
 
Zerbrochen
 
 
Thomas ist schon lange wach. Es ist Ostersonntag. Die Uhr zeigt sieben. Wie in einer Endlosschleife gehen ihm immer die gleichen Gedanken durch den Kopf. Die letzten Tage waren sehr schön. Die Enkelkinder sind gewiss auch anstrengend. Ihr fröhliches Kinderlachen und die strahlenden Augen haben ihn dennoch von seinen Sorgen abgelenkt. Ein paar Stunden existierte für ihn eine heile Welt. Nun sind die Kinder wieder weg. Sofort plagen ihn wieder Schmerzen. Unruhe macht sich in ihm breit. Schließlich steht er auf. Ganz leise schleicht er sich aus dem Zimmer, damit Elke nicht aufwacht. Soll sie nur ruhig noch schlafen.
 
 
Er lässt den Tag gemächlich angehen Eine ganze Stunde braucht er im Bad. Er fühlt sich nicht gehetzt und deckt den Frühstückstisch. Von seinem Platz aus kann er den Garten sehen. Die Sonne scheint und verspricht einen schönen Tag. Ganz anders als gestern. Schnee und Eiseskälte hätten den Kindern bald die Osterfreude verhagelt. Die Kinder fanden es nicht lustig als ihr Opa meinte, dass der Osterhase wohl mit dem Motorschlitten kommen müsse, wenn er mit seinen Pfoten nicht gerade am Boden festgefroren sei. Bei dem Gedanken schmunzelt Thomas vor sich hin.
 
Da reißt Elke ihn mit einem kurzen harschen „Morgen“ aus seinen Gedanken. Wortlos setzt sie sich und wirkt mit ihrem leeren Blick abwesend. Sie gießt sich Kaffee in ihre Tasse. Dabei bemerkt sie nicht, dass seine Tasse auch noch leer ist. Thomas ärgert sich, dass er mal wieder wie Luft behandelt wird.
 
 
Wer die beiden beobachtet, könnte meinen, dass sie über Nacht ausgewechselt wurden. Gestern waren sie noch aufgeweckt und tollten mit ihren Enkeln herum. Sie hatten alle Spaß. Jetzt sitzen sie sich schweigend gegenüber. Wortlos kaut jeder sein Brötchen. Elkes Blick ist nach unten gerichtet. Sie schaut nicht ein einziges Mal auf.
 
Thomas ist verzweifelt. So geht das nun schon Monate lang. Gespräche kommen höchstens über völlig belangloses Zeug zu Stande. Höflichkeitsfloskeln halt.
 
 
Miteinander reden können die beiden schon seit fünf Jahren nicht mehr. Seitdem Elke in der psychiatrischen Klinik war, hat sie sich völlig zurück gezogen. Anfangs versuchte er, mit ihr zu reden und zu sagen, was er vermisst. Ungläubiges Kopfschütteln war die Antwort. Spricht er seine Vorstellungen und Gedanken aus, hört er nur „Du machst ja doch was du willst“.
 
 
Es fällt ihm schwer, ihr in die Augen zu schauen. Ist es die Angst, darin sich selbst zu sehen?  Erkennt er dann vielleicht etwas, was er nicht wahrhaben will? Er hat immer gehofft, dass seine Liebe zu Elke nicht zerbrochen ist. Doch an dieser Hoffnung nagt der Zahn der Zeit und hinterlässt schmerzhafte Bisswunden. Sein Lebensmut sinkt von Woche zu Woche. Er funktioniert. Ängste füllen immer mehr seine Tage aus. Er spürt, wenn er die Wahrheit nicht ausspricht, fühlt er sich allein und einsam. Aber wenn er sie ausspricht, wird er sicher das gleiche Gefühl haben. Und so versinkt er ohne erkennbaren Ausweg in seiner eigenen Starre.
 
17.Oktober 2011
 
Sieg der Straße
 
 
Thomas steht ängstlich hinter der Gardine am Fenster. Die Straße vor dem Haus ist voller Menschen. Dicht gedrängt halten sie Plakate hoch. "Wir wollen hier keine Verbrecher" steht darauf. Sprechchöre fordern, dass er wegziehen soll. Thomas spürt Gänsehaut. Die lauten Rufe lassen ihn frieren. Tagelang geht das schon so. Er traut sich keinen Schritt aus dem Haus. Dabei stehen Tag und Nacht zwei Streifenwagen direkt vor der Haustür. Man hat ihm versichert, ihn zu beschützen.
 
 
Plötzlich ein lautes Klirren. Thomas zuckt zusammen. So sieht also der Polizeischutz aus. Aus der Menschenmenge heraus hat jemand einen Stein durch die Fensterscheibe geworfen. Angst breitet sich in ihm aus. Durch die kaputte Scheibe hört er jetzt die Rufe der Menschenmasse lauter und deutlicher.
 
 
Er fragt sich, woher die Leute von seiner Vergangenheit wissen. Irgendwo muss es eine undichte Stelle geben. Er hat keine Ahnung, wer ihn da fertig machen will. Seine Knastzeit war gegen das hier ein Kinderspiel. Zehn Jahre Freiheitsentzug hat er bis auf den letzten Tag verbüßt. Dabei hatte er noch Glück, dass das Gericht keine weiteren Maßnahmen angeordnet hatte. Denkbar wäre es gewesen. Immerhin hatte der Gutachter damals von einer Gefahr für die Allgemeinheit gesprochen. Sein handeln zeige tendenziell Amokmerkmale auf.
 
Er befand sich in einer tiefen Lebenskrise, hatte sich das Leben nehmen wollen und war psychisch erkrankt. Für seinen Arbeitgeber zählte nur Leistung. Menschlichkeit und Fürsorge waren Fremdworte. Er wurde gefeuert. In blinder Wut stürzte er in sein Auto und raste davon. Er konnte nicht mehr klar denken, fühlte sich leer und ohne jegliche Kontrolle über sich. Als plötzlich vor dem Auto sein Chef auftauchte, drehte er durch, gab Gas und hielt auf ihn zu. Dass dieser in einer großen Menschengruppe lief, hatte er nicht wahrgenommen. Sein Chef verstarb noch am Unfallort. Viele Unbeteiligte wurden schwer verletzt. Das Geschehen konnte er im Gefängnis in einer Therapie aufarbeiten. Heute tut es ihm leid. Für seine Schuld hat er zehn lange Jahre hinter dicken Gefängnismauern verbracht und gebüßt. Er hat alles verloren. Die Familie will nichts mehr von ihm wissen, hat ihn verstoßen. Weil er auch keine Bleibe mehr hatte, hat die Therapeutin gemeinsam mit den Behörden ihm diese Wohnung hier besorgt. Und nun wollte er nach seiner Entlassung hier in ein neues Leben starten.
 
 
Sein Handy klingelt und reißt ihn aus den Gedanken. Auf dem Display sieht er die Nummer seiner Therapeutin. Sie sagt ihm, dass sie vor seiner Tür stehe und bittet ihn zu öffnen. Er folgt ihrer Bitte. Sie ist der einzige Mensch, dem er noch vertraut. "Hallo Thomas, dürfen wir reinkommen?" Sie ist in Begleitung eines ihm unbekannten Mannes. Er will höflich sein und lässt sie wortlos in seine Wohnung. Sie nimmt im Sessel Platz und will wissen, wie es ihm geht. "Beschissen ist noch geprahlt." poltert er los. "Sie sehen doch, was da draußen los ist." Er reißt dabei seinen Arm hoch und zeigt mit dem Finger in Richtung Fenster. Sein Gesicht zeigt Zornesröte. Mit lauter zitternder Stimme wirft er ihr vor, dass all ihre Bemühungen um ihn für die Katz seien. "Es ist schlimmer als im Knast. Dort wollte mich wenigstens keiner umbringen. Hier fliegen Steine! Was ist das für ein Scheißleben? Wo ist die Freiheit, die sie mir versprochen haben?" Er ist außer sich vor Wut. Doch er bekommt von der Therapeutin keine Antwort auf seine Vorwürfe. Ohne Umschweife stellt sie Thomas den Mann vor, der sie begleitet. Er ist ein hoher Beamter des Innen-ministeriums. Thomas ahnt nichts Gutes. Sie machen ihm klar, dass die Lage sich inzwischen so verschärft hat, dass wohl nur noch ein Wegzug  als Lösung in Frage käme.
 
Thomas ist gekränkt. "Warum werde ich schon wieder bestraft?", schreit er. "Ich habe die Strafe abgesessen, die das Gesetz für meine Tat vorgesehen hat! Soll ich jetzt von Stadt zu Stadt gehetzt werden? Das ist Selbstjustiz und auch strafbar. Dürfen sich die da draußen etwa ungestraft über das Gesetz hinwegzusetzen?"
 
 
Thomas redet sich schon wieder in Rage. Die Therapeutin sieht die Gefahr, dass er erneut in eine Amoksituation hineinrutschen könnte. Behutsam versucht sie mit ihrer Begleitung weiter, ihn von einem Wegzug zu überzeugen. Sie weiß wie es in ihm aussieht. Doch sie sieht keine andere Lösung um erst einmal Ruhe und Entspannung in die Situation zu bekommen. Erst dann kann sie mit ihm wieder vernünftig arbeiten.
 
Für ihn bricht aber wieder einmal ein Kartenhaus zusammen. Er resigniert und gibt auf. Er fühlt sich gefangen und gejagt, ohne Recht auf ein Leben mit seiner Schuld aber in Freiheit. Er ist überzeugt, dass es auch an seinem nächsten Ort wieder einen Sieg der Straße geben wird.


4.April 2011
Der unsichtbare Vorhang
Es ist Freitag Morgen. Der Tag beginnt zu erwachen. Ich habe heute einen langen Weg vor mir. Aber die 8 bis 9 Stunden Fahrt auf der Autobahn schrecken mich nicht ab. Erwartungsvoll lasse ich den Tag beginnen. Besonders freue mich schon auf Norman`s Gesicht, wenn ich unangemeldet vor ihm stehe. Er rechnet bestimmt nicht damit, dass ich selbst ihn an seinem 30. Geburtstag in den Arm nehme. Mir ist es aber sehr wichtig. Ich bin stolz auf ihn und möchte ihm dies auch zeigen, ihn wertschätzen. Wie sehr wünschte ich mir selbst eine solche Anerkennung durch meinen Vater.
Die Autobahn zieht sich lang hin. Ich komme erstaunlich gut voran. Am Autohof Schnaittach mache ich den ersten größeren Stopp und tanke nach. Bis hierher ließ ich die Landschaft fast gedankenlos an mir vorbeiziehen.
Ich fahre weiter. Mein Kopf ist auf einmal gar nicht mehr so leer. Der Verkehr hat zugenommen. Ich habe nun auch keinen Blick mehr für die Landschaft, nehme nicht mehr wahr, ob sie schön ist oder nicht. Ich habe das Gefühl wieder im echten Leben angekommen zu sein. Von hinten drängeln tief fliegende Luxuskarossen heran und drängeln mich regelrecht weg. Ich fühle mich unsicher und ärgere mich über solche rücksichtslosen Chaoten. Fahrspuren werden urplötzlich ohne vorherige Blinkanzeige wie wild hin und her gewechselt. Gefährliche Bremsmanöver folgen. Es ist einfach nur Wahnsinn. Es strengt mich an. Die Muskeln flattern heftig, wie im Wind. Das Herz schmerzt. Jetzt muss ich öfter kleinere Pausen einlegen. Die Kraft lässt merklich nach. Die Symptome lassen meine Gedanken schweifen. Ich fühle mich im Moment genauso, wie schon in den letzten Wochen. Gehetzt und getrieben. Angstgefühle und Panik machen sich breit. Ich habe das Gefühl dem Druck nicht standhalten zu können. So macht mir das Leben keinen Spaß. Das muss sich unbedingt ändern. Aber wie? Bis jetzt gelang mir das immer nur mit Flucht. Mir gefällt es auch nicht, dass Bekannte und Nachbarn erzählen, ich sei  "d u" - dauernd unterwegs.
20 Km noch bis zum Grenzübergang. Meine innere Unruhe steigt. Ich bin nervös. Dabei habe ich überhaupt keinen Grund dazu. Zollbestimmungen habe ich eingehalten, Papiere und Fahrzeug sind in Ordnung.
Vor mir erscheint das Schild "Zollabfertigung 800 m". Verkehrsschilder geben vor, die Geschwindigkeit zu drosseln, 80 … 60 … 40 … . Da ist schon das Ende der Autoschlange ran. Ich bin verdutzt. Bisher habe ich hier noch nie stehen müssen. Vorne sehe ich schon die Grenzbeamten die Autoreihe entlang schreiten. In jedes Fahrzeug schauen sie durch die Scheiben hinein, verlangen die Papiere. Sie schauen, prüfen und gehen weiter. Plötzlich hören sie auf. Einer hebt den Arm - wahrscheinlich der Truppführer - und winkt mit dem Arm in Fahrtrichtung. Kein einziges Fahrzeug mehr wird kontrolliert. Die Kolonne setzt sich in Bewegung und rollt ungehindert durch die Grenzstation. SCHICHTWECHSEL!
Nun bin ich auf eidgenössischem Boden. Es ist wie immer eigenartig. Als ob ich durch einen dichten Fadenvorhang hindurch gefahren wäre. Alle Sorgen sind abgestreift, in den Fäden hängen geblieben. Keiner schubst und drängelt mehr. Alles geht in Ruhe und Gemächlichkeit voran. Ich fahre auf der Stadtautobahn durch Basel, viele Brücken und Tunnel passiere ich. Hier rast niemand.
Hinter der Stadt tauchen rechts und links die Berge auf. Ich bin von dem Bild fasziniert. Die Landschaft ist satt grün. Sie sieht erholt und gesund aus, wirkt beruhigend auf meine Seele. Kilometerlange Tunnel durch die Berge folgen. Ich tauche in die gespenstischen Röhren ein und hab das Gefühl durch sternenklare Nacht zu fahren. Ich fühle mich sicher und befreit. Alles läuft ganz ruhig. Ich gleite geräuschlos unter die riesigen Bergketten hindurch auf die andere Seite.
An das Tageslicht wieder zurückgekehrt, scheinen die sattgrünen Berghänge, die strahlende Sonne und die weißen Wolken am Himmel noch fantastischer als zuvor. Alle Anstrengung ist wie weggewischt. Ich fühle mich immer ruhiger und ausgeglichener. Kann das überhaupt sein? Ich frage mich jedes Mal von Neuem, was es wohl Besonderes in der Schweiz ist, solch ein beeindruckendes Gefühl zu erleben. Ich habe es noch nicht herausgefunden.
Es ist ein Lebensgefühl, was dort erwacht. Es ist nicht nur die nahe Familie. Alle Menschen sind dort freundlich zu einander und viel offener als in Deutschland. Ich gehe durch die Straßen der Dörfer und Städte und hab das Gefühl wahrgenommen zu werden. Ich werde so oft gegrüßt, als ob ich schon ewig da wäre und mich jeder kennt. Ich fühle mich immer wieder geborgen, geachtet, einfach zufrieden und glücklich.
Es dauert nur 2-3 Tage und alle meine psychosomatischen Beschwerden sind wie weggeblasen.
Bis zum Tag vor meiner Heimreise. Der Weg zurück bis zur Grenze ist jedes Mal ein Stück schmerzvoller Abschied. Dann tauche ich wieder in den Fadenvorhang ein und kaum auf deutschem Boden hat mich die hektische und zermürbende Welt wieder ein.        
 
 
15.Oktober 2010
 
Schreie in der Stille
 
 
Der Spaziergang allein über Feld und Flur, durch den Wald und zu dem kleinen abgelegenen See hat auf Uwe eine beruhigende Wirkung. Die Sonne wärmt sein Gesicht und das Herz, er hört dem Säuseln des Windes in den Baumwipfeln zu. Die Vögel scheinen ihm von der Freiheit in ihrem Leben zu erzählen. Gespannt lauscht er der Natur und saugt sie in sich auf. Er genießt in letzter Zeit immer öfter diese Zeit ohne Großstadtlärm, ohne Autoabgase, ohne Hast und Druck. Einfach nur Ruhe.
 
 
Am See angekommen nimmt er auf der Bank am Ufer Platz und schaut über die spiegelnde Wasseroberfläche in die Ferne. Er versinkt in Gedanken.
 
Hier ist es so schön ruhig, aber wie ist es zu Hause? Klappert dort das Geschirr im Schrank, wenn schwere LKW am Haus vorbeidonnern? Sind die Räume von lauter Musik erfüllt? Oder ist ständig irgendwelcher Besuch da, der ihn voll quasselt?
 
Nein, all das ist auch dort nicht. Ganz im Gegenteil, er nimmt dort sogar mehr als Ruhe war. Stille, manchmal sogar Totenstille. Nur das Tacken der Wanduhr ist zu hören,… wird immer lauter. Tack … tack … tack.
 
Mit Grauen denkt er daran. Zu gern würde er diese Stille zerreißen. Aber es gelingt ihm einfach nicht. Traurig denkt er zurück, was er schon alles unternommen hat, um mit seiner Frau wieder auf eine Ebene zu kommen.
 
 
Ihm wird immer klarer, dass er an seiner Situation nur selbst etwas ändern kann. Darauf zu hoffen, dass sie sich ändert, wird wohl vergebens sein.
 
Doch wenn die Ehebeziehung weiter Bestand haben soll, bedarf es tiefen Vertrauens von ihm. Und damit hat er ja schon immer so seine Probleme.
 
 
Er fragt sich, wie es wohl ihr ergeht. Jetzt wo sie nach 25 Jahren Ehe quasi häppchenweise Details aus seinem früheren Leben erfährt.
 
Es werden immer mehr Bilder, die aus dieser Zeit in ihm hochkommen. Sie werden schärfer und wühlen ihn so sehr auf, dass ihm mal wieder die Tränen kommen. Schon viele Tage hat er nur geweint. Gerade in den letzten Tagen passierte es wieder häufiger. 20 Jahre Wiedervereinigung haben auch immer etwas mit der Stasi in der DDR zu tun.
 
Wie oft musste er schon erleben, dass seine Frau weder die dargestellten Machenschaften noch ihn verstand.
 
Wie sollte sie auch, wenn er ihr nie aus seinem Leben, von seinen leidvollen Erfahrungen erzählen konnte. Vergraben hatte er die Gefühle, zu tief sind die Wunden, zu groß der Schmerz.
 
 
Auch jetzt auf der Bank erfüllt ihn wieder ein inneres zittern. Hitzewallungen treiben kalte Schweißperlen auf die Stirn.
 
Große Träume hatte er damals als Neunzehnjähriger. Voller Tatendrang wollte er mitmischen, wenn sich die Menschen und ihre Lebensbedingungen weiter entwickeln. Während seiner Dienstzeit bei der Armee hatte er dabei aber mit seinen damaligen Genossen gestritten, hatte Ihnen öffentlich widersprochen. Er wurde kalt gestellt und abserviert. In seiner Wut und seinem Zorn darüber trank er sich eines Tages Mut an und zerstörte mit einem Großfeuer Gebäude und Fahrzeugpark seiner Dienststelle.
 
Fast 4 Wochen konnte er sich den Häschern der Staatssicherheit entziehen. 2 Tage vor seinem 20. Geburtstag dann die Festnahme. Das erste Verhör, 20 Stunden lang bis tief in die Nacht, bis er nicht mehr konnte, um Schlaf winselte.
 
Es folgen Bilder der Erinnerung an die Einlieferung in die Haftanstalt des MfS in Leipzig. Die Handgelenke schmerzen von den Ketten.
 
Obwohl er tot müde und entkräftet war, musste er die ganze Prozedur über sich ergehen lassen. Nackt stand er in der Zelle vor den Wächtern. "Arme hoch, Beine breit" hörte er den einen brüllen. Ein Händepaar fuhr von vorn und hinten über jeden Zentimeter seines Körpers. Es war so demütigend. "Bücken" raunzte es wieder in lautem Befehlston. Und noch heute spürt er den Schmerz als dann sein Anus auf verbotene Gegenstände kontrolliert wurde.
 
Dann bekam er Haftkleidung zugeworfen, wurde wie ein Schwerstverbrecher erkennungsdienstlich registriert und endlich zu seiner Zelle geführt.
 
Die dicken Mauern, das Knallen der Zellentüren, das Rasseln der Schlüssel an den Gittern wird er nie in seinem Leben vergessen.
 
Einsam und verlassen musste er lange Zeit in einer fensterlosen Zelle tagsüber nur stehend verbringen. Wenn man ihn dann mal nachts schlafen ließ, durfte er nur auf dem Rücken liegen. Spurte er nicht, gab`s Schläge, Leseverbot, Kontaktverbot zu jedermann. Auch der sonst einmal wöchentliche Hofgang wurde ihm des öfteren gestrichen. Es folgten unendliche Nachtvernehmungen. Bis sein Wille endgültig gebrochen war. Das Leben in dieser Haftanstalt war menschenunwürdig. Die ganzen Jahre hat er sich immer schuldig gefühlt. Er war es doch der aufbegehrte, straffällig wurde und damit auch die Schuld trug für das was ihm widerfuhr.
 
Erst vor ein paar Wochen hat er es geschafft, dieses Haus wieder zu betreten. Es war das erste Mal wo auch seine ihn begleitende Frau begriffen hat, wie es ihm ergangen sein muss.
 
 
Doch die Folgen sind für die Meisten um ihn herum nicht zu verstehen, nicht zu begreifen.
 
30 Jahre lang hat er sich mit niemandem darüber austauschen können. Zu sehr war seine Seele verletzt. Zu groß waren die Peinigungen und Lebenseinschränkungen, die man ihm auch nach der Haftentlassung antat. Er durfte seinen Aufenthaltsort nicht selbst bestimmen, hatte keinen Ausweis, durfte in den ersten Jahren nach der Haft nicht reisen, nicht mal innerhalb der DDR. Er wurde rund um die Uhr überwacht, abgehört, beschattet. Er lebte in ständiger Angst und ahnte doch nicht, wie dicht diese Leute an ihm dran waren. Viele Jahre später erfuhr er aus den Akten, dass sogar seine erste Ehefrau IM des MfS war. Der Schock fürs Leben.
 
Nie mehr sollte irgend jemand ihn nochmals der Art erniedrigen und kontrollieren können.
 
Vertrauen hatte er in diesem Punkt zu keinem einzigen Menschen mehr aufgebaut. Und so blieb ihm in seiner Ausweglosigkeit nur die Rückkehr zu seinem in den Kinderjahren gelernten Verhaltensmuster. Zu groß war die Schuld, die er sich selbst auflud.
 
Er glaubte nur durch überragende Leistungen, könnte er sich solch einen Stand im Leben erarbeiten, dass er wieder geliebt, anerkannt und erfolgreich ist.
 
Das schien auch viele, viele Jahre funktioniert zu haben. Er hat funktioniert und dabei sich selbst verloren. Er hat keine eigene Identität mehr, hat sich nur durch Leistung definiert. So sehr, dass er darüber sehr krank geworden ist. Sein Leben kann und will er so nicht mehr weiterführen.
 
Eine Möglichkeit, die ihm auch sehr oft in den Kopf kommt, besteht darin, seinem Leben ein Ende zu setzen, zu kapitulieren. Doch was ist dann mit dem Rebellen aus der Jugendzeit?
 
 
Die andere Möglichkeit wäre, zu versuchen, zu seinem eigen ICH vorzudringen. Wieder  selbst zu sein und glücklich zu werden.
 
Doch die ersten Schritte auf diesem Weg lassen ihn oft wanken und immer wieder stehen bleiben. Vor allem seine treue Wegbegleiterin, die ihm geholfen hat, da hinzukommen wo er jetzt ist, glaubt ihn jetzt nicht wieder zu erkennen. Sie behauptet er sei anders geworden.
 
 
"NEIN, verdammt noch mal!" schreit Uwe jetzt auf seiner Bank laut hinaus. "Ich will doch nur wieder ich selbst sein." "Warum verschiebt sich jetzt alles so sehr, dass ich ausgerechnet dem Menschen, den ich am meisten liebe, nun am meisten weh tue?", kreist es ihm durch den Kopf. Kraftlos sinken seine Arme nach unten.
 
Und sein Hilfeschrei verhallt in der Stille.


17.Juni 2010
 
Angst
 
 
Lutz sitzt gedankenverloren, teilweise grübelnd auf der Couch. Sein Blick ist leer und die Stationsschwester hat das Gefühl, dass er durch sie hindurch schaut.
 
Sein Klinikaufenthalt neigt sich dem Ende zu und ihm ist ganz mulmig vor dem, was ihn nun zu Hause und dann später auf Arbeit erwarten wird. Wie wird er wohl aufgenommen werden? Ist man offen zu ihm? Und vor allem, welchen Belastungen kann er noch standhalten? Es wird nichts mehr so sein, wie vor seiner Klinikeinweisung.
 
Erst vorige Woche ist er zum x-ten Mal in ein tiefes Loch gestürzt. Wieder einmal hatte er das Gefühl, dass sein Haus von der Zukunft schon im Rohbau eingestürzt war. Was machte es da noch für einen Sinn weiter zu machen? Es war so schwer für ihn in dieser Welt bestehen zu können und er sah auch kein Ziel mehr. Voller Verzweiflung setzte er sich in sein Auto und raste völlig sinn- und ziellos davon. Unterwegs überkam ihn immer mehr der Wunsch, das Auto gegen einen der zahlreichen Bäume zu steuern. Nur der Gedanke, dass dann das Auto völlig zertrümmert wäre und sein Sohn es nicht mehr gebrauchen könnte, ließ ihn dann von diesem Gefühlssturm ab.
 
Tage danach wurde er dann richtig heftig wachgerüttelt. Immer wenn er Kritik höre, die sein Bild von der Welt, von seinem Leben mehr oder weniger heftig erschüttert, dann reagiere er genau mit solchen Gedanken, die schon Tendenzen zum Amoklauf zeigen würden. Ob es nun eine wilde Autofahrt sei, bei der er fast seine Oberärztin über den Haufen gefahren hätte, oder er zündet etwas an. Das hat gesessen und er war völlig geschockt.
 
Und so richtig erholt hat er sich immer noch nicht davon. Jetzt wo er so in Gedanken versunken der Klinikentlassung entgegen sieht, fallen ihm noch viel mehr solcher Episoden in seinem Leben ein. Ob es sein Klinikaufenthalt in der Psychiatrie als 13-jähriger war, das Feuer, welches er als 19-jähriger legte, seine beiden Suizidversuche im Alter von 25 Jahren oder jetzt sein zerstörerisches Verhalten in der Maltherapie als er die Werke der Anderen einfach übermalte und nicht zuletzt die Autofahrt vorige Woche.
 
Tendenzen zum Amoklauf ! So hat er es bis jetzt noch nie gesehen. Und zum ersten Mal in seinem Leben kann er sich in die Lage von Amokläufern versetzen, über deren Taten immer wieder in den Medien berichtet wird. Bislang hat er immer gedacht, wie kaputt müssen die sein, wie kann man nur ....  Jetzt bekommt er durch seine eigene Geschichte eine ganz leise Ahnung davon, wie schnell Menschen in solche für sie nicht mehr beherrschbaren Situationen kommen können und wie verzweifelt sie wohl sein mögen.
 
... und da ist sie wieder, seine unbändige Angst vor sich selbst, die ihn schon vor 2 Jahren selbst hat Hilfe suchen lassen. Nur diesmal ist sie viel stärker, viel mächtiger !
 
Ob es wohl einen Menschen gibt, der ihn und die anderen vor dieser Gefahr schützen kann? Der soviel Kraft hat, ihn aufzufangen und zu halten, der zu ihm hält, egal was geschieht?
 
In seinem Gesicht ist die pure Angst zu sehen.
 
 
Lyrik


Abschied naht
im Atem des Augenblicks
Rosenblütenduft!
 
 
 
 
 
 
Stille Stunde
Eine Geste berührt mein Herz.
Ein Wort gibt mir Hoffnung.
Erinnerung zaubert ein Lächeln
in mein Gesicht.
 
Vorbei der Traum ?
 
 
Wache auf                                                                                                                   
öffne die Augen
die schönen Bilder sind verschwunden                                                        
mit ihnen das wohlige Gefühl
 
vorbei…

 
Im kalten Tag erwacht,
möchte ich zurücksinken                                                                                      
in die wohlige Wärme -
doch ich bleibe in der Realität
und der Traum …
 ist  n i c h t  vorbei!


Deine Hand
Gib mir deine Hand.
Komm, laufen wir ein Stück.
Siehst du ihre Blicke?
Sie laufen voller Zorn.
... und wir laufen weiter, immer weiter.

   
 
Komm, gib mir deine Hand
Sie kennen nicht
unseren Weg, unseren Gram.
Sie Verleugnen das Band,
welches uns vereint.

 
 
Los - nimm schon meine Hand!
Lauf weiter ! nur nach vorn!
Sie ändern ihren Blick.
Doch blicken noch voll Zorn.
Sie folgen uns in Hast.                                                                                         
… und wir laufen weiter, immer weiter.

 
 
Halte meine Hand!
Halt fest, was leicht verfliegt!
Ich höre ihren Ruf.
Ihr Hass ist nicht versiegt.
Ich spüre dich bei mir.
Das Pochen deiner Hand.
... und wir laufen weiter...


In Trümmern
 
 
         Unwirklich der Blick auf das Stadtlager
zwischen zerbombten Häuserschluchten,
in denen Verzweifelte
zwischen den Fronten
auf Nahrung warten,
so lange schon und so viele,
 

 
         den Splittern der Fassbomben ausgesetzt,
dem Tod, der mit feurigem Getöse
die verängstigten noch Lebenden  
auszulöschen versucht,
Kinder als Schutzschilde fungieren,
eingesperrt und dem Terror ausgeliefert,
überall in den Ruinen kauert
das unwirkliche Leben.
 

 
Die Welt schaut zu!


Im Fallen

Wenn ich als Blatt vom Baume falle,
sinke Stück um Stück,
um mich meine Träume,
schwebe ich frei und unbefangen.
Die Jerichower Schreibrunde
der Spiegel der Seele...
ist das Wort, als geschriebenes oder gesprochenes,
ist das Handeln eines Menschen

. .
Die Jerichower Schreibrunde wurde vom PELIKAN e.V.-FÖRDERVEREIN FÜR LITERATUR UND NEUE SCHULE initiiert. Ziel ist die Antistigmatisierung von Menschen, die mit  Krankheit bzw. Behinderung leben müssen. Es wird Hilfe gegeben bei Schreibversuchen und literarisch-künstlerischer Gestaltung ihres Konflikts. Ausbruch aus der Isolation.
Wir - Schriftsteller, Künstler und Patienten - treffen  uns  regelmäßig. Vertrauen und Einfühlungsvermögen gehören dazu, Rücksicht und Geduld. Erzählt werden Geschichten, die mit dem eigenen Leben zu tun haben, mit der Krankheit und ihren Folgen. Wie erlebe ich sie und wie reagieren Verwandte, Nachbarn, Freunde und Kollegen darauf? Viele Fragen quälen. Sie sich zu stellen, dazu gehört Mut. Mut braucht auch der, der darüber schreibt. Aber er hilft sich und anderen damit. Wer nicht selber schreiben will. erzählt oder hört nur zu. Es geht um Hoffnungen und Wünsche, um Eltern und Kinder und auch um das Alleinsein. Das geht jeden an.
Das Zauberwort heißt Berührung. Danach suchen alle. Alle, die ihre Geschichten aufschreiben, die ihr Leben erzählen, die sich damit auseinandersetzen, auch ich.
In der Schreibrunde reden wir über Glück und Unglück, über das Vergessen und Vergessenwerden, bereit, den einen oder anderen aufzufangen, wenn ihn sein Unglück einholt, wenn die Stimme versagt, weil Schreckensbilder aufleben.
Das Unglück kann auch Angst heißen. Die Angst hat viele Wurzeln. Der eine fürchtet sich vor dem Tag, der andere vor der Nacht. Einer vor allem, was größer ist als er selber, der andere vor Kellerräumen, Pusteblumen, weißen Kitteln. Jeder von uns könnte diese Aufzählung auf seine Weise fortsetzen. Nicht jeden macht Angst krank. Aber die Krankheit kann jeden treffen.

"Wir müssen achtsam sein mit uns und dem anderen." Das ist die Botschaft.

Seit Januar 2016 habe ich mit Marion Krüger die Leitung der Schreibrunde übernommen. Seit ihrem Bestehen wird sie damit nun das erste Mal von Betroffenen selbst geleitet.

hier geht es zur Webseite der Jerichower Schreibrunde

aus meinen Projekten
Kindsein in Sachsen-Anhalt

Mit diesem Projekt hat der FBK ein tragfähiges Modell in der Zusammenarbeit mit Schulen entwickelt und seit 1996 nachhaltige Akzente im Bildungsprogramm „Kultur in Schule und Verein“ gesetzt.
Im Rahmen von „Kindsein in Sachsen-Anhalt“ entsendet der FBK jedes Jahr 10 Autor*innen an 5 Projektschulen, um mit ausgewählten Schüler*innengruppen literatur- und lesefördernd zu arbeiten. Die Autor*innen haben die Aufgabe, sich mit den Schüler*innen über ihr Aufwachsen auszutauschen, ihnen dabei zu helfen, ihren Gedanken Ausdruck zu verleihen und ihre Zukunftswünsche zu formulieren. Dafür setzen sie vielfältige, auch spartenübergreifende Mittel ein. Die Autor*innen lesen aus ihren eigenen Werken, diskutieren darüber mit den Schüler*innen und fordern sie dazu auf, sich selbst literarisch auszuprobieren. Alltag und Aufwachsen im heutigen Miteinander setzen den thematischen Rahmen für das kreative Schreiben und die Suche nach den eigenen Ausdrucksmöglichkeiten.
Um den Schüler*innen die Auseinandersetzung mit Literatur zu erleichtern, stellen die Autor*innen eine Literaturauswahl zusammen, anhand derer sie die Teilnehmer*innen fordern und fördern möchten. Die Bücher dienen als Anhaltspunkt und Beispiele für die Vielfalt literarischer Gattungen und erweitern den Erfahrungshorizont der Schüler*innen. Der FBK stellt den Projektschulen die Literaturauswahl als Bücherpakete zum Projektbeginn zur Verfügung. So können sie sowohl von den ausgewählten Schüler*innengruppen genutzt werden, als auch nach Projektende von allen Nutzer*innen der Schulbibliotheken.
In das Projekt „Kindsein in Sachsen-Anhalt“ ist nicht nur der jährliche Schreibaufruf „Unzensiert und Unfrisiert“ eingebettet, sondern auch die Landesschreibwerkstatt des FBK. Damit verfolgt der Landesverband das Ziel, seine vielfältigen Angebote der begleitenden literarischen Talentförderung überregional bekannt zu machen und schreibende Kinder und Jugendliche in ihren Lebenswirklichkeiten abzuholen.

2022 werden u.a. Ursula Günther und Lutz Sehmisch an das Internationale Stiftungsgymnasium Magdeburg entsandt.
Projektzeitraum: 2. - 4. Quartal 2022
Dieses Projekt wird gefördert vom Ministerium für Bildung des Landes Sachsen-Anhalt.
LEADER-Projekt "Auf dem Weg zum Gartensommer 2020"
LEADER ist ein Förderprogramm der Europäischen Union zur Entwicklung des ländlichen Raumes. ... Das Programm ist Teil des Europäischen Landwirtschaftsfonds (ELER). Ziel der Förderung ist die Unterstützung einer eigenständigen und nachhaltigen Regionalentwicklung in ländlichen Gebieten.
Im Rahmen dieses Projektes habe ich mit Marion Krüger als Leitung der Jerichower Schreibrunde eine Schreibwerkstatt im Garten des Kloster Jerichow angeboten. Gemeinsam mit einer weiteren Schreibwerkstatt und einer Malwerkstatt entstand ein gemeinsamer 2-Jahres-Kalender.





meiner eigener Textbeitrag im Kalender:


und eine Pressestimme:



"Der Klang des Windes" - eine Duo-Lesung mit Johanne Jastram - 2017
im Rahmen der Veranstaltungsreihe "Treffpunkt Bibliothek" waren wir in die Stadtbibliothek Roßlau eingeladen

Auszug aus dem Programm (Text von Lutz Sehmisch)

Frühlingsspaziergang im Park

Stell dir in deiner Phantasie vor, du stehst am Eingang eines großen Parks – der Park wurde schon vor vielen Jahrhunderten angelegt – den Eingang säumen große alte Eichenbäume – ihr Stamm zeugt von einer langen Geschichte – ein leicht holziger Duft weht dir von diesen alten Bäumen entgegen – wenn du magst, kannst du mit deinen Händen über die knorrige Rinde eines Baumes streichen – spüre die Furchen in der Rinde – nimm den Geruch dieses alten Baumes ganz und gar in dich auf – schaue dir die Krone des Baumes und ihre Äste genau an – wie ausladend und mächtig sie ist – trotzdem strahlen die Blätter saftig grün im warmen Sonnenlicht – alles um dich herum ist angenehm und warm – die Luft ist rein und klar – angenehm und erfrischend zugleich

Nun gehe ein paar Schritte weiter und durchquere den Eingang – ein großer Laubengang aus grünen Weiden führt dich zu einem Platz mit einem großen Springbrunnen – der Platz ist eingesäumt mit einer grünen Hecke – der Springbrunnen ist in der Mitte des Platzes angelegt mit vielen unterschiedlichen Figuren – wenn du näher kommst, dann kannst du verschiedene Fischfiguren erkennen, die sich gegenseitig Wasser zuspritzen – goldfarbene Ornamente des Brunnens leuchten dir in der Sonne entgegen – du kannst das ruhige Plätschern des Brunnens hören – und das leichte Wehen eines Frühlingswindes – rein, klar und erfrischend

Der Weg führt dich nun weiter auf eine große Wiese, die am Wegesrand mit vielen Blumenbeeten versehen ist – die Blumenbeete sind in verspielter Weise in verschiedenen Höhen angelegt – du kannst die unterschiedlichsten Frühlingsblumen sehen – kleine blaue Blüten – große orangefarbene Blumen mit hängenden Blütenköpfen – lilafarbene Blütenteppiche – dazwischen befinden sich kleine Steinfiguren – Ziersteine – die ebenfalls zum Teil mit einem Blütenteppich überzogen sind – es duftet herrlich frisch und blumig – kleine Vögel fliegen zwitschernd über die Wiese – landen und picken fröhlich in der Wiese herum – andere Vogelschwärme fliegen ihre Kreise über dem Park – ein klarer frischer Wind weht dir entgegen und umhüllt dich mit einem wundervollen Blütenduft – die Sonne strahlt dich wärmend an – alles ist warm und angenehm – ruhig und klar
Dein weiterer Weg führt dich zu einer alten Schlossanlage – ein kleines Lustschloss wurde vor vielen Jahrhunderten in diesem Park gebaut – mit vielen Wandelgängen – kleinen Brunnen – Sträuchern und den unterschiedlichsten Bäumen – alles ist jetzt im Frühling zum Leben erwacht – die Bäume bilden ihre ersten Knospen – der eine oder andere Baum erstrahlt schon in einem zarten Weiß-Rosa, der andere in einem kräftigen strahlendem Gelb – um die Baumstämme herum sind kleine Blütenteppiche zu sehen – sie umranden die Bäume und in ihren strahlenden Farben – du fühst, es ist jetzt Frühlingserwachen – die Bäume und die Blumen strahlen in ihrer Blütenpracht um die Wette

Mit dem Abklingen der Melodie zieht sich auch das Wasser wieder zurück – wenn du magst, kannst du dir den Park nun weiter anschauen – große Wiesen mit vielen Obstbäumen zieren deinen Weg – Apfelbäume, die bereits mit vielen duftenden Blüten übersät sind – Kirschbäume – die schon voll und ganz in ihrer Blüte stehen – Blütenduft erfüllt deinen ganzen Weg – kleine Eichhörnchen springen von Ast zu Ast und klettern an den Bäumen entlang – eine große blühende Weide säumt deinen weiteren Weg – ihre Äste hängen über viele Meter von der Krone bis zum Boden – eine ganze Schar Vögel hat sich in dieser Weide niedergelassen – sie nutzen den Frühling nun zum Nester bauen – sie zwitschern – streiten sich – wetteifern um die schönste Braut – fliegen in großen Bögen um den Baum ihre Wettrennen – und lassen sich fröhlich zwitschernd wieder auf ihrer Weide nieder

Nun bist du fast am Ende des Parks angelangt – ein langer grüner Laubengang mit kleinen rosafarbenen Blüten führt dich an einem alten Gewächshaus vorbei – das mit seinen alten Glasfenstern eine ruhige und verlässliche Beständigkeit widerstrahlt – ein kleiner verspielter Steingarten befindet sich um das Gewächshaus herum – kleine Enten wandern schnatternd im Gelände und suchen nach einem geeigneten Platz für Ihre Nester

Du bist nun wieder am Eingang angelangt und nimmst auf deiner Heimreise das Gefühl des Frühlings in dich auf – die reine und klare Luft – den Duft der blühenden Bäume und Pflanzen – das Erwachen der Natur – das fröhliche Geschnatter der Enten – die glücklich nach ihrem Nistplatz suchen – das Gefühl der Gemeinsamkeit – des neuen und beginnenden Jahres mit all seinen Entdeckungen und glücklichen Momenten.

Teilnahme an den 25. Landesliteraturtagen Sachsen-Anhalt

 
Im Morgenland
 
André ist jetzt seit 3 Jahren arbeitslos. Vom Amt bekommt er zwar Hartz IV, doch das reicht nicht vorn und nicht hinten. Er stellt keine großen Ansprüche an das Leben. Dennoch hat er manchen Monat nicht jeden Tag etwas zu essen, schiebt Knast. Die Hoffnung hat er längst aufgegeben. Er ist nur noch frustriert, dass ihm im Amt niemand zuhört. Wenn ihm dann auch noch eine der Sesselfurzerinnen querkommt, ihm arrogant und überheblich erklären will, dass er doch an seiner Misere selbst Schuld sei, kann er schon gar nicht mehr wütend werden. Er verkriecht sich in seinen Schildkrötenpanzer und fühlt sich bis auf die Knochen gedemütigt.
 
Er fragt sich schon selbst, wie oft er noch eine draufkriegen muss, bis er dagegen etwas macht. Hat er überhaupt eine Chance, sich zu wehren? Kumpels erzählen ihm von Abendspaziergängen, zu denen sich jeden Montag sehr viele Menschen zusammenfinden. Sein Freund Christian sagte zu ihm: „Mensch Du musst einfach mal mitkommen. Das ist ein geiles Gefühl. Das ist kein Spaziergang wie sie immer erzählen. Die Massen demonstrieren, die wollen was ändern. Weißte, das ist so wie es bei unseren Alten vorm Mauerfall war. Haben Dir Deine nichts davon erzählt? Die Bonzen von heute ziehen uns doch auch wieder bloß übern Tisch.“      
 
Schon den Montag drauf sind die beiden gemeinsam dabei. Andrè bekommt Gänsehaut beim Anblick der Menschenmassen. Am Markt angekommen, wird plötzlich ein Ruf angestimmt. Er weiß gar nicht in welcher Ecke er begann. Der Ruf wird immer lauter, schallt über den Platz, bricht sich an den umliegenden Häusern. „Wir sind das Volk! Wir sind das Volk!“ Andrè ist berührt, ergriffen. Er fühlt sich plötzlich stark. Es scheinen alles Leute mit gleichem Schicksal zu sein. Keiner mehr in seiner Nähe, der ihn nur niedermachen will. Das gibt Kraft.
 
In den folgenden Wochen ist Andrè jeden Montagabend auf den Veranstaltungen der MAGIDA. Er interessiert sich nun verstärkt für die Reden. Sie sind kämpferisch, benennen klar und deutlich die Forderungen. Andrè hört auch, dass es die Flüchtlinge sind, die den Deutschen die Arbeitsplätze wegnehmen, dass den Flüchtlingen mehr Geld in den Arsch geschoben wird, als Deutsche an Hartz-IV bekommen. Er findet das
 
unerhört. „Christian, stell Dir das mal vor. Denen wird alles hinterhergeworfen, für uns bleibt nichts. Dabei sind es die, die alle mit einem Smartphon rumrennen. Und ich? Ich habe nicht mal ein einfaches Handy. Sauerei ist das.“ Der AfD-Stadtrat Ahlborn hat für ihn die passende und richtige Antwort bereit. „Einwanderung braucht klare Regeln.“   Genauso unerhört findet er es, dass viele Gegner der Demonstrationen behaupten, dass sie alle Rechte seien. „Nur weil ich für unsere Freiheit demonstriere, bin ich doch kein RECHTER! Ich werde doch wohl noch als Deutscher in Deutschland meine Meinung sagen dürfen! Was bildet ihr Euch eigentlich ein?“ Plötzlich taucht bei den Gegnern das Argument auf, dass auch Tatjana Festerling, die sich auf ihre Seite geschlagen habe, ein Neonazi sei. Das konnte nun gar nicht sein. Er hatte sie kennengelernt und hat im Netz ihren Blog gefunden. „Die Festerling ist genauso wenig Nazi wie ich. Ich habe gelesen, dass sie in der AfD Hamburg ist. Dort hat sie die Demo „Hooligans gegen Salafisten“ organisiert und die ist vollkommen friedlich abgelaufen. Da hetzt mal wieder die Lügenpresse gegen uns.“
 

Drei Monate später …
 
In Andrès Wohnviertel wurde ein Wohnblock als Asylantenheim hergerichtet. Nur 500 Meter von ihm entfernt wohnen jetzt lauter Kuffnuken. Eines Abends trifft sich André im Schutz der Dunkelheit mit Freunden, denen das Heim schon lange anstinkt. Sie sammeln Steine aus dem nahe liegenden Gleisbett der Straßenbahn auf und schleichen sich an den Wohnblock heran. Ein kurzer Pfiff und alle schmeißen die Steine mit lautem Gebrüll gezielt auf die Fenster bis zum ersten Stock. Trotz des Gegröle sind deutlich zerberstende Glasscheiben zu hören. Menschen schreien panisch, Kinder weinen laut. Andrè hört jemanden neben sich rufen: „Die Bullen!“. Er sieht in der Dunkelheit schnell nahende Blaulichter und rennt so schnell er kann weg. Bevor die Lichter stoppen, ist er im Schutz der Dunkelheit verschwunden. Er kann unentdeckt seine Wohnung erreichen.  
 
Tagelang bohren sich immer wieder die gleichen Fragen in seinen Kopf. „Solls das jetzt gewesen sein? Wie uncool.“ „Und was haben wir jetzt erreicht? Die Scheiß-Ausländer sind immer noch da. Die Scheiben wurden schon im Morgengrauen ersetzt und alles ist beim Alten.“ In dieser Stimmung wird Andrè jedes Mal wütend. Er muss sich abreagieren. Am Besten kann er das unten in der gegenüberliegenden Kneipe. Ein paar Bier und er kann sich lautstark Luft verschaffen. Hier fühlt er sich unter Freunden gleichen Schicksals. Kerle, die ihm zuhören. Mit steigendem Alkoholpegel wird er mutig und prahlt gerne Mal mit seiner nächtlichen Attacke auf das Heim. Gerade noch halbwegs geradeaus laufend können, macht er sich die wenigen Meter auf den Heimweg.
 
Eines Abends lauert ihm eine ganze Meute Jugendlicher auf. Sie greifen ihn an, beschimpfen ihn als rechte Drecksau. Er spürt einen kräftigen Schlag in den oberen Bauch, krümmt sich vor Schmerz, schon prasselt die nächste Faust auf ihn nieder. Diesmal trifft sie ihn im Gesicht. Sein Kopf schlägt ruckartig nach rechts hinten. Er hört die prügelnde Meute nicht, nur die Treffer ihrer Fäuste hallen durch die Nacht. Er reißt sich zusammen, will auf keinen Fall vor denen jammern. Dabei fällt es ihm schwer. Plötzlich wird es laut um ihn herum. Geschrei und unverständliches Gezeter, hört sich wie arabisch an.  
 
Dass er nur ein paar Prellungen davonträgt hat er Achmed und seinen Freunden zu verdanken. Achmed kam mit ihnen gerade vorbei. Sie halfen André aus seiner misslichen Lage. Der ist tagelang verstört. Wieso haben die Ausländer den offensichtlich linken Schlägertrupp in die Flucht geschlagen? Er hat sich nicht einmal für die Hilfe bedankt. Noch heute spürt er aber die ermunternd auf seine Schulter schlagenden Hände der Ausländer.
 
Später trifft er Achmed an der Straßenbahnhaltestelle wieder und erkennt ihn als einen seiner Helfer. Achmed spricht ihn in gebrochenem Deutsch an: „Guten Morgen, mein Freund. Wie geht es Dir? Hast Du starke Schmerzen gehabt?“ Andrè ist über sich selbst verwundert, dass er dem Ausländer ohne Groll antwortet. Der Fremde stellt sich vor: „Ich heiße Achmed, und Du?“ Er stammelt verlegen: „Andrè“ und ist froh, dass die Bahn kommt. Er spürt wieder diese vertraute Berührung seiner Schulter. „Sehen wir uns mal wieder?“ Er nickt verstohlen und hinter Achmed schließen sich die Straßenbahntüren.
 
In der kommenden Zeit wird Andrè immer öfter von Achmed in Gespräche verwickelt. Er ist von Achmeds Offenheit beeindruckt und unterhält sich gern mit ihm.
 
Irgendwann lädt Achmed dann seinen deutschen Freund zu sich in das Heim ein. Andrè ist zunächst verwirrt. Aber schließlich siegt seine Neugier und zu tun hat er ja sowieso nichts, denn eine Arbeit hat er immer noch nicht.
 
Achmed erzählt ihm viel von seiner Heimat. Von Herkunft ist er Iraner, musste aber aus seiner Heimat fliehen, weil er dort verfolgt wurde. Die Flucht führte ihn nach Syrien. Dort brauchte er zunächst keine Angst mehr haben, verfolgt und hingerichtet zu werden. Doch lange währte dieser Schutz nicht. Die IS-Truppen nahmen die Dörfer ein, erschossen Frauen und Kinder. Andrè bekommt Gänsehaut, lauscht den Worten von Achmed und wagt es nicht, ihn zu unterbrechen. Zu erdrückend, zu berührend ist das, was er da hört.                                             
Achmed floh wieder, versuchte in den Schutz großer Städte zu kommen, schaffte es bis nach Aleppo. Aber auch hier war er nicht sicher. Tieffliegende Flugzeuge warfen fast jeden Tag Bomben ab, zerstörten die Stadt immer mehr, töteten tausende Menschen. Es herrschte ein heilloses Durcheinander. Er wusste schon nicht mehr, wer gegen wen kämpft. Es waren russische Jagdbomber, amerikanische Jagdflugzeuge, die syrische Luftwaffe, alle warfen sie Bomben ab. Wer von ihnen nicht getötet wurde, erlitt furchtbare Angst vor den Flugzeugen.                   
Andrè erinnert sich, schon des Öfteren an der Straßenbahnhaltestelle ausländische Kinder beobachtet zu haben, dass sie plötzlich aus dem Spiel heraus panisch ängstlich wurden. Manche fingen an zu weinen. Dabei flog nur der Rettungshubschrauber des naheliegenden Klinikums über sie hinweg. Die Eltern hatten offensichtlich Mühe, ihre Kinder wieder zu beruhigen. Mein Gott, was für ein Trauma müssen diese Familien bewältigen. Er bemerkt, dass auch Achmed oft traurig ist, wenn er von seiner Flucht erzählt. Mittlerweile sind die beiden sich schon so vertraut, dass Andrè ihn dann auch schon mal in den Arm nimmt und hofft, dass er ihn ein wenig trösten kann. Um Achmed abzulenken, erzählt er dann über sich und das Leben in Deutschland. Es ist eben nicht immer das Paradies, wie viele Ausländer glauben. Das bisschen Stütze, was er bekommt, reicht nicht zum Leben und nicht zum Sterben. Er kann auch den Spruch schon nicht mehr hören, dass die Hartzer wenigsten nicht verhungern müssen und ein Dach überm Kopf haben. Haben diejenigen, die so etwas behaupten, schon mal versucht, sich in solch eine Lage zu versetzen? Von wegen nicht verhungern. Die Zeiten sind auch schon längst vorbei. Der sogenannte Bedarf wird nach Zahlen ermittelt, die schon 15 Jahre alt sind. Inzwischen sind aber auch die Lebensmittelpreise deutlich gestiegen. An vier bis fünf Tagen im Monat hat er kein Geld mehr, um sich etwas zu Essen zu kaufen. Andrè kann dann richtig wütend werden, wenn einer behauptet, er müsse nicht hungern, bekäme schließlich Stütze. Er fühlt sich verhöhnt und immer mehr an den Rand der Gesellschaft gedrängt. Ein Dach über dem Kopf, ob die, die darauf stolz sind, die Wohnungen kennen, die ihnen das Amt zugesteht? Er glaubt es nicht. Keiner von denen würde in solchen Buden hausen wollen. Die immer größer werdende Schar der Armen, darf nicht mehr teilhaben am gesellschaftlichen Leben. Auch die medizinische Versorgung wird immer mehr in arm und reich auseinanderdividiert.
 
Andrè und Achmed verstehen immer mehr die Sorgen des Anderen. Beide lernen, dass sie nicht über den Anderen urteilen können und dürfen. Jeder lebt sein eigenes Leben und muss damit verbunden mit anderen Problemen fertig werden. Auch Achmed sagt nicht mehr, „Was sind schon Deine Sorgen gegen meine Bomben. Ihr lebt hier in Reichtum und Luxus. Gebt uns etwas davon ab.“ Er kann jetzt sogar die Angst der Deutschen nachvollziehen und nimmt auch seinen deutschen Freund öfter mal in den Arm, um ihn zu trösten. Diese Nähe tut beiden gut. Sie fühlen sich über alle Barrieren hinweg verstanden.  
 
Sie treffen sich immer öfter, helfen sich gegenseitig, erledigen gemeinsam ihre Behördengänge. Oftmals spüren sie die verächtlichen Blicke hinter den Schreibtischen, wenn die Augen so von oben herab über den Brillenrand schielen. Die konkreten Fragen nach dem Hintergrund der Begleitung nehmen von Woche zu Woche zu. Andrè wird im Sozialamt sogar gefragt, ob Achmed sein Partner sei. Beiden schießt die Röte ins Gesicht. Nach gefühlten 3 Minuten findet Andrè seine Fassung wieder und stammelt: „Nein, wie kommen sie denn darauf?“ Statt einer Antwort hört er nur ein verächtliches: „Naja.“                                                                                                                                                                                                             

Achmed und Andrè verlieren trotz der vielen Gespräche nie das Interesse aneinander.
 
Sie brennen darauf, zu ergründen, warum der Andere so und nicht anders ist. Warum reagiert er so und nicht wie ich das kenne und erwartet habe?
 
Achmed fragt: „Mir scheint es, dass es Euch in Deutschland schwer fällt, Fremden die Türen zu öffnen, ihnen Gastfreundschaft zu gewähren. Kannst Du mir sagen, woran das liegt? Ist es wirklich nur die Angst, dass wir Euch etwas wegnehmen?“ Andrè muss erst angestrengt überlegen. Achmed hat ihn mit seiner Wortwahl zum Nachdenken gebracht. „Nein, diese Angst allein wird es nicht sein. Wir stammen aus einem anderen Kulturkreis als ihr. Bei uns spielt jeder Einzelne eine große Rolle, seine Leistung für die Gesellschaft ist wichtig. Das scheint bei Euch anders zu sein. Da spielt die Gruppe, die Familie eine große Rolle. Dadurch seid ihr nach einer möglichst harmonischen Beziehung bestrebt und kommt nicht mit unserem zwischenmenschlichen Umgang klar, der üblicher Weise offen und direkt ist. Aber auch wir wissen nicht, ob das was ihr gerade sagt, ehrlich gemeint ist. Unsere Kulturen, in denen wir groß wurden, sind zu unterschiedlich. Bei uns will man möglichst schnell zu einem Ergebnis kommen. Die persönliche Beziehung spielt dabei keine Rolle. Ihr fangt dagegen im Urschleim an und wollt erst einmal eine persönliche Basis herstellen. Ich habe gehört, dass ihr Euch dafür auch schon mal zwei Tage Zeit nehmt, bevor ihr wirklich in Verhandlungen einsteigt. Das geht bei uns gar nicht. Ich habe auch den Eindruck, dass ihr von uns erwartet, dass wir Euch den ganzen lieben langen Tag beduddeln, an die Hand nehmen und Euch in unser Paradies einführen. Dafür haben wir gar keine Zeit. … Naja gut, … richtig nachgedacht, wäre es für uns Europäer schon sehr gewöhnungsbedürftig, sich dafür Zeit zu nehmen.
 
„Siehst Du“, wirft Achmed ein, „ihr seid Einzelkämpfer. Gastfreundschaft ist für uns eine alte Tradition der Wüste. Sie ist aus einer Notwendigkeit heraus entstanden und dient dem Ziel des Überlebens in einem der feindlichsten Lebensräume der Menschen überhaupt. Auch heute noch gilt der, der nicht bereit ist den Freund UND den Fremden einzuladen und mit ihm zu teilen, als geizig und unerträglich. Dabei bezieht sich die Gastfreundschaft nicht nur auf die Versorgung mit Nahrungsmitteln. Nach unserem alten orientalischen Verständnis verpflichtet sich der Gast wie der Gastgeber, auch über die Zeit des Besuches hinaus, einander beizustehen und einander zu schützen.
 
Zumindest darf man sich keinen Schaden zufügen. Man geht eine Beziehung miteinander ein. Dabei ist ganz wichtig, die Pflicht zur Gastfreundschaft, aber ebenso das Recht, sie zu empfangen, sind im Koran und den Hadithen fest verankert. In solch einem heißt es: es ist eine Pflicht für jeden Muslim, einem Gast für eine Nacht Gastfreundschaft zu gewähren. Wenn jemand am Morgen in sein Haus kommt, ist das ein Recht, das ihm zusteht. Wenn er will, mag er es nutzen, und wenn er will, mag er darauf verzichten.“                                    
 
Andrè und Achmed spüren in den folgenden Wochen in sich die Lust, immer mehr des Anderen verstehen zu wollen. Sie verlieren ihre Berührungsangst gegenüber dem Fremden. Sich persönlich zu kennen und zu schätzen, macht es für beide leichter das Unbekannte und Ängstigende einfach auch mal aushalten zu können.
 
Sie nähern sich in ihren Gedanken so sehr, dass Andrè zunächst sich selbst eingesteht, sich verliebt zu haben. Gerade hat er seine Unsicherheit gegenüber dem Fremden abgebaut, da bringt ihn ein neues Gefühl völlig aus der Fassung. Er fragt sich immer wieder: „Was ist das, was da gerade mit mir passiert? Wie kann es sein, dass ich derartige Gefühle gegenüber einem Mann habe?“ Er fühlte sich zwar schon immer mehr zu Männern hingezogen als zu Frauen, aber das hier ist etwas ganz Anderes. Früher haben ihn die Männer einfach nur angemacht. Sie lernten sich kurz kennen, hatten miteinander Spaß beim Sex und gut war es. Achmed möchte er einfach immer nur nahe sein, seine Zeit mit ihm verbringen. Er hat überhaupt keine Vorstellung, wie es nun weitergehen soll. Andrè ist wieder einmal seinem Achmed sehr nahe, drückt ihn an sich und genießt es seinen Körper an dem seinen zu spüren. „Du, Achmed, ich muss Dir etwas beichten.“ Achmed grinst ihn an und unterbricht ihn: „Beichtet ihr Christen nicht nur in Eurer Kirche?“ „Jetzt hör mal auf, Dich über mich lustig zu machen. Mir ist es sehr ernst. Ich glaube, ich habe mich in Dich verliebt, so richtig verknallt …“ Die Stille scheint schier endlos anzuhalten. „Ich weiß auch nicht wie das passieren konnte. Gegenüber einem Mann habe ich noch nie so tief gefühlt. Ja, anfangs dachte ich nur, ein süßes Kerlchen. Den würdest Du auch nicht von der Bettkante stoßen. Aber mit der Zeit kam so eine komische innere Aufgeregtheit hinzu, Dich wiedersehen zu können. Ich fühle mich in Deiner Nähe so glücklich und
 
 
nervös zu gleich. Wir sagen dazu, man hat Schmetterlinge im Bauch.“ Es folgt wieder eine lange Pause. „Andrè, ehrlich gesagt, geht es mir so ähnlich.“ Obwohl er es gehofft hat, ist Andrè nun doch überrascht, freudig überrascht. Er nähert sich mit seinem Kopf dem von Achmed. Langsam und zärtlich berühren sich ihre Lippen. Die Augen sind geschlossen. Einem aufkommenden Sturm gleich wächst die leichte Berührung zu Küssen voller Leidenschaft an. Beide drohen darin zu versinken. Beide fühlen sich danach erleichtert und glücklich zugleich, sich ihre Gefühle füreinander gestanden zu haben.
 
Dennoch spürte Andrè bei Achmed eine leichte Zurückhaltung. Irgendetwas muss ihn nachdenklich, fast ängstlich gemacht haben. Andrè lässt nicht locker bis Achmed schließlich erzählt. „Du weißt, dass ich ursprünglich aus dem Iran komme. Ich hatte dort schon einmal einen Partner. Vielleicht hast Du auch schon gehört, dass bei uns im Iran die Liebe zwischen zwei Männern verboten ist.“ Andrè stockt der Atem. „Gleichgeschlechtliche Handlungen werden mit hadd-Strafen geahndet. Weißt Du was das ist?“ „Nein, ich habe noch nie davon gehört.“ „Also, eine hadd-Strafe ist ein Rechtsanspruch Allahs. Sie darf also auf keinen Fall milder ausfallen. Auf geschlechtliche Handlungen zwischen Männern stehen 100 Peitschenhiebe. Finden die Handlungen mit Eindringen des Penis statt, muss auf Tod durch Hängen erkannt werden.“ Andrè ist geschockt. Das mag er sich überhaupt nicht vorstellen. In Deutschland gibt es auch konträre Haltungen und Meinungen zur Homosexualität, aber dieser Umgang in einer Gesellschaft macht ihn nur noch sprachlos.
 
Langsam findet er seine Fassung wieder und fragte ganz zaghaft und leise: „Du wurdest erwischt und bist deshalb geflohen?“ „Ja, ich konnte entkommen, weil ich erfuhr, dass die Polizei meinen Partner schon verhaftet hatte.“ "Und in Syrien gelten diese Strafen nicht? Das sind doch auch Muslime?“ „Doch sie gelten auch dort. Nur die Umsetzung erfolgt nicht in jedem Falle so streng wie im Iran.“ Wieder hat Andrè etwas dazu gelernt, nämlich eine Erfahrung menschlichen Leids.   
 

Und wie soll es mit den Beiden nun weitergehen?
 
Keiner von beiden kann Zukunftspläne schmieden. Andrè hat die Hoffnung auf Arbeit verloren und Achmed macht diese Hoffnungslosigkeit seines Freundes zwar Angst, aber er weiß nicht einmal, ob er in Deutschland bleiben darf. Die Bearbeitung seines Asylantrages dauert eine unerträglich lange Zeit. Doch die Herausforderung wird für die beiden noch größer werden.
 
Achmed bekommt eines Tages Post von der Behörde. Sein Antrag auf Asyl ist abgelehnt. Er soll innerhalb von drei Wochen Deutschland verlassen und in die Heimat fliegen. Sollte er dies nicht tun, droht man ihm an, ihn mit Hilfe der Polizei abzuschieben. Es ist wie ein Hohn. Auf Achmed wartet in seiner Heimat die Vollstreckung der Todesstrafe. Deutschland tritt eigentlich gegen derartige Verletzungen der Menschenrechte ein. Ihm schreibt die Behörde aber, dass Deutschland ihm kein Asyl gewähren kann, weil dies nur politisch Verfolgten gewährt wird. Er sei zwar verfolgt, aber nicht politisch verfolgt. Sie schreiben ihm auch, dass er auch kein Asyl bekommen könne, weil er im Antrag falsche Angaben gemacht habe. Was ist geschehen? Achmed meinte wahrheitsgemäß die Frage nach dem Fluchtland beantwortet zu haben. Er ist aus Syrien nach Deutschland geflohen. Nachforschungen der Beiden ergeben dann, dass syrische Denunzianten bei der Ausländerbehörde verraten haben, dass er eigentlich aus dem Iran über Syrien geflohen ist. Achmed wird von der deutschen Behörde empfohlen, in den Iran zurückzukehren, um dann drei Monate später erneut von dort auf direktem Weg einzureisen. Dann könne er in Deutschland einen neuen Antrag auf Asylgewährung stellen.
 
André will aber seine große Liebe nicht verlieren. Sie überlegen gemeinsam, was sie dagegen machen könnten. Wird Achmed am Ende dann doch noch abgeschoben?   

"Fotos mal anders"
Ausstellungen
2015 in Rostock
2017 in Köthen
2018 in Magdeburg

Gerda und Lothar Heintze sind begeisterte Fotografen.
Mit ihren Kameras gehen sie auf Motivsuche,
und sie finden sie in allen Bereichen des Lebens.

In der freien Künstlergemeinschaft "RosselunART" haben wir zueinander gefunden und in einigen Ausstellungen die Idee umgesetzt, ihre kreativen Fotos mit lyrischen Worten zu untersetzen.

Der Germanist W.Kayser schrieb 1948: „Wo uns etwas erzählt wird, da handelt es sich um Epik, wo verkleidete Menschen auf einem Schauplatz agieren, um Dramatik und wo ein Zustand empfunden und von einem `ICH` ausgesprochen wird, um Lyrik.“
 
Die Sprache eines subjektiven Erlebnisses ist eine bildhafte Sprache. Bilder gehen über das Anschaulich machen hinaus, sie sprechen unser Gefühl unmittelbar an, sie vermitteln eine seelische Erfahrung, sie überschreiten die Grenzen der begrifflichen Verständigung, in der Fotografie wie in der Lyrik.
 
Sie vermitteln Anschaulichkeit und Gefühlsintensität, erzeugen aber auch Mehrdeutigkeit.
 
Bäume, Wolken, Sonnenaufgänge behandeln in Gedichten die menschlichen Wahrnehmungen, menschliche Empfindungen, die aus der Begegnung mit ihnen resultieren. Zum Beispiel ist der Mond am Himmel nicht der Mond im Gedicht. Der eine ist ein Himmelskörper, der andere „Gedankenfreund“ des einsamen Wanderers, der Beschützer der Liebenden, der kalte Betrachter menschlicher Melancholie.
 
Lyrische Bilder verändern und erweitern somit auch die Sichtweise auf Fotografien.


Der Strahl eines anderen Lichts                                 
Ist es mal wieder die trübe,                                        
die dunkle Seite in mir,                                              
die mich bestimmt, mich narrt?
 
Ich grübele, ich streite                                               
über den Schatten                                                    
und überseh das Wesentliche                                     
 
ist es doch nur                                                         
der Schatten des Bildes                                            
um das Licht zu heben
                                                   

Süßes voller Sinnlichkeit          
Tropfen für Tropfen
wird zum goldenen Fluss
Gold, wie die Lippen zum Kuss geformt
voll bebender Erwartung
 
warme Worte, Honig gleich
fließen über die Lippen
 
Tränen der Freude
aber auch Tränen der tiefen Trauer
tauchen ein, wie Kristalle in den
goldenen Honig des Steins

Du siehst meine Augen,
schönsten Perlen gleich
auch wenn Du Deine schließt,
wirst Du mich sehen

Du strahlst im goldenen Fluss
deine Anmut, deine Leidenschaft
das Feuer, das in uns brennt
in ein Kunstwerk gefasst,
gleich dem Brisingamen.





Formen und Farben
unserer Natur
verbergen Leben,
geheimnisvoll,
faszinierend.
Lass uns träumen
im Augenblick
der Veränderung.












                                                einmal noch kind sein,
                                                voller fantasie,
                                                mit fragenden,
                                                staunenden augen.












Traumbaum


strahlung ist: leichter als licht                                                 
menschen gingen durch strahlung hindurch,
hörten nie wieder zu glühen auf.
die knochen strahlten rot auf grün.
 

kein feuer, keine kohle kann brennen so tief,
wie die himmlische asche, die niemand rief.
 

strahlung geht durch dich hindurch.
rührt dein innerstes an
gib’s zu: du hast es nicht einmal gespürt!
 

gott im sonnenkleid,
im strahlenkranz,
vermag dich nicht mehr zu sehen.
strahlung ist gewesen
und wird sein,
 soll sein.
 hast du das strahlen einmal geschaut,
 bist du verloren für anderes leuchten.







Die Welt ist keine Kaffeetasse

















                                      Geheimnisvolles Wesen
                                       einer fremden Welt
                                       zeigt in Tanz und Poesie
                                      seine Gefühle und Stimmungen
                                      entdeckt die Umgebung
                                      verschmilzt mit ihr
                                      entführt mich in unendliche Weiten
                                      Farbenspiele geben Raum und Fantasie

Schatten.

Erinnerungen sind wie Schatten.
Sie überkommen dich einfach so.
Sobald das Licht weg ist,
kommen sie und wollen dich auf ihre Seite ziehen.

Schwarz und dunkel.
Tief und unerreichbar.
Du kannst sie nicht vertreiben.

Erinnerungen,
sie werden immer in deinem Herzen bleiben.
Sind wie Stiche.
Sind wie Schnitte.
Die Narben verlassen dich niemals,
gehen nie, verheilen nie.

Bleiben immer dein.





Traum?
Albtraum?
Traumreise?
Alles ist möglich
In einer Welt
die aus den Fugen gerät
In einer Welt
mit schrecklichen Seiten



Seifenblasen…
 
lassen meine Augen leuchten
erinnern an Tage, die unendlich schienen
die Wimpern sich verschämt befeuchten
und mit Freudentränen dienen
 
schillern wie ein Regenbogen
durchschweben  fremde Räume
wirken auf meine Seele wie Drogen
zerplatzen wie meine Träume!









Das Gesicht,
 
Lesebuch
 des Lebens










Ein Indianermärchen für die Sommerferienspiele 2013 im Mehrgenerationenhaus Ölmühle Roßlau
für eine Kinder-Theatergruppe habe ich dieses szenische Indianermärchen geschrieben
Die öffentliche Aufführung zum Abschluss der Ferienspiele hat allen viel Freude bereitet


Narbengesicht
 
 
Ein Märchen der Blackfoot-Indianer
 
nacherzählt
 
von Lutz Sehmisch
 
 

 
Handelnde Personen:
 
 
Narbengesicht
 
Schöne Blume
 
alte Frau
 
Morgenstern
 
Sonnengeist
 
 
Narbengesicht
 
 
Früher herrschte bei allen Stämmen Frieden. Es gab keine Kriege. Zu jener Zeit gab es einen Mann, der hatte eine wunderschöne Tochter. Viele junge Männer wollten sie heiraten, aber immer, wenn jemand um ihre Hand anhielt, schüttelte sie nur den Kopf und sagte, sie wolle keinen Mann.
 
»Warum sollte ich heiraten?« sagte sie. »Ich habe einen reichen Vater. Unsere Wohnung ist gut. Unsere Vorratskammern sind nie leer. Wir besitzen viele Felle für den Winter. Mir fehlt es an nichts.«
 
Die Sippen der Raben, der Büffel, der Füchse und viele andere hielten einen Tanz ab, alle trugen ihre schönsten Kleider und ihren besten Schmuck, und jeder von ihnen gab beim Tanz sein Bestes. Danach hielten die jungen Männer um das Mädchen an, aber jedes Mal sagte es nein. Der Vater wurde zornig und sagte: »Was soll das? Ich glaube, dir ist keiner gut genug.«
 
 
»Habt doch ein Einsehen« ,sprach Schöne Blume, » Ihr sollt die Wahrheit erfahren. Die Sonne hat zu mir gesprochen. >Du  darfst keinen dieser Männer heiraten<, hat sie gesagt, >du gehörst mir. Wenn du mir gehorchst, wirst du immer glücklich sein und lange leben. Aber halte mein Gebot.«
 
»Wenn das so ist«, antwortete der Vater, »müssen wir uns daran halten.« Und sie sprachen nicht mehr weiter darüber.
 
Es gab da noch einen sehr armen jungen Mann. Seine Sippe war zu den Sandhügeln gezogen. Er besaß keine Hütte, keine Frau, die seine Häute gerben und ihm Mokassins nähen konnte. Mal lebte er bei dieser, mal bei jener Familie. Er war gut gewachsen, nur hatte er auf der Wange eine Narbe, und seine Kleider waren alt. Nach einem der großen Tänze trafen die jungen Männer das arme Narbengesicht. Sie lachten ihn aus und sagten: »Warum wirbst du nicht um das schöne Mädchen?« Narbengesicht lachte nicht, er antwortete:
 
»Gut ich will auf euren Rat hören. Ich werde um sie anhalten.«
 
Die jungen Männer hielten das für einen Spaß. Narbengesicht aber ging hinunter zum Fluss. Er wartete dort an der Stelle, wo die Frauen Wasser schöpften, und nach einiger Zeit kam auch das schöne Mädchen.
 
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Narbengesicht:           Mädchen warte. Ich will mit dir sprechen. Die Sonne soll zuschauen und jeder kann es sehen.
 
 
Schöne Blume:                       Sprich nur.
 
 
Narbengesicht:            Ich habe dich die ganze Zeit beobachtet. Du hast alle jungen Männer abgewiesen. Heute haben sie mich ausgelacht und zu mir gesagt, ich solle um dich anhalten. Ich bin sehr arm, habe keine Hütte, keine Nahrung, keine Kleider, keine Felle und keine warmen Pelze.Dennoch bitte ich dich, erbarme dich meiner und werde meine Frau.«
 
 
Schöne Blume  (verhüllte sein Gesicht mit einem Umhang)
 
                 (Scharrt mit den Schuhspitzen im Sand)
 
                  denkt einige Zeit nach
 
»Es ist wahr. Ich habe all die anderen abgewiesen, aber jetzt bin ich froh, dass du mich fragst. Ich werde deine Frau werden. Du bist arm, das macht nichts. Mein Vater wird dir einige seiner Hunde schenken. Meine Mutter wird uns eine Hütte bauen. Meine Verwandten werden uns Felle und Pelze geben. Du wirst nicht länger arm sein.«
 
 
Narbengesicht             (will das Mädchen umarmen und küssen)
 
 
Schöne Blume             (hält ihn zurück und sagt)
 
Warte! Die Sonne hat zu mir gesprochen und gesagt, ich dürfe nicht heiraten, ich gehöre ihr. Sie sagte, falls ich gehorchte, würde ich lange leben. Darum sage ich dir: Geh zum Sonnengeist. Sag ihm, dass du mich heiraten willst. Sag ihm, er soll die Narbe auf deiner Wange verschwinden lassen. Das soll das Zeichen sein, dass er einwilligt. Aber wenn er sich weigert oder wenn du seine Wohnung nicht finden kannst, dann darfst du auch nicht zu mir zurückkommen.
 
 
Narbengesicht:            Oh! Zuerst klangen deine Worte gut. Ich war froh. Aber nun? Wo ist diese Hütte, in der der Sonnengeist wohnt? Wie soll ich den Weg finden, den noch niemand kennt?
 
 
Schöne Blume:            Nur Mut
 
(geht zu seiner Hütte zurück)
 
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Narbengesicht war traurig. Er verhüllte seinen Kopf mit seinem Umhang und überlegt, was er tun soll. Nach einer Weile steht er auf und geht zu einer alten Frau, die immer freundlich zu ihm gewesen war.
 
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Narbengesicht:            Hab Mitleid mit mir. Ich muss eine lange Reise machen, bin aber sehr arm, Nähe mir bitte ein Paar Mokassins
 
 
alte Frau:                      Wohin willst du reisen? Wir haben doch keinen Krieg, alles ist friedlich.
 
Narbengesicht:            Ich weiß nicht. Ich habe Kummer und kann mit dir nicht darüber sprechen.
 
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Die alte Frau nähte ihm nicht nur ein Paar Mokassins, nein, gleich sieben Paar waren es mit guten Sohlen. Und sie gab ihm auch einen Sack mit Essen. Sie hatte ein gutes Herz.
 
Narbengesicht stieg ganz allein und traurig den Abhang hinauf. Er warf von oben einen letzten Blick auf das Lager und fragte sich, ob er sein Volk jemals wiedersehen werde.
 
Viele Tage wanderte er, über weite Prärien, durch dichte Wälder, über Flüsse und Gebirge - und jeden Tag wurde der Sack etwas leichter. Dabei hob er von dem Essen soviel auf, wie er nur irgend konnte. Eines Nachts kam er an der Wohnung des Wolfes an. »Hai-yah!« sagte der. »Was tut mein Bruder hier, so fern von seinem Dorf?«
 
Narbengesicht erzählte ihm, dass er den Ort, an dem der Sonnengeist wohnt, sucht.
 
»Ich bin weit herumgekommen«, sagte der Wolf, »ich kenne alle Prärien, die Täler und die Gebirge, aber die Wohnung des Sonnengeistes habe ich nirgends gesehen. Aber ich weiß, wer dir helfen könnte.« Er schickte ihn zu dem Bären. Doch der Bär konnte ihm genauso wenig helfen wie der Dachs.
 
Als Narbengesicht auf das Faultier traf war schon sein Proviant zu Ende und alle Mokassins durchgelaufen. »Hab Erbarmen mit mir. Ich muss sterben.«
 
»Wie kann ich dir helfen?«, hörte er das Faultier sagen.
 
»Ich versuche, den Sonnengeist zu finden und bei ihm um Schöne Blume anzuhalten.«
 
»Ich weiß, wo der Sonnengeist lebt«, sagte das Faultier. »Morgen will ich dir den Weg zu dem großen Wasser zeigen. Er wohnt am anderen Ufer.«
 
Am Ufer des großen Wasser angekommen, blieb das Herz ihm beinahe stehen.
 
Noch nie hatte er ein so großes Wasser gesehen. Das Wasser schien kein Ende zu haben und das andere Ufer war nicht zu sehen.
 
Da schwammen zwei Delphine heran. Als sie die Geschichte von Narbengesicht hörten, trugen sie ihn auf ihrem Rücken hinüber.
 
Dort führte ein breiter Weg ins Land hinein.
 
Narbengesicht sah bald auf dem Weg ein Kriegshemd, ein Schild, ein Bogen und Pfeile liegen. Nie zuvor hatte er so schöne Waffen gesehen, aber er rührte sie nicht an. Er ging vorsichtig um sie herum und lief weiter. Nach einer Weile traf er einen jungen Mann, und es war der schönste Mensch, den er je gesehen hatte..
 
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Morgenstern:              Hast du die Waffen gesehen, die auf dem Weg lagen?
 
 
Narbengesicht:                      Ja ich habe sie gesehen.
 
 
Morgenstern:               Aber du hast sie nicht angerührt?
 
 
Narbengesicht:                     Nein, ich dachte mir, sie gehören jemandem, der sie dort liegengelassen hat, deswegen habe ich sie nicht mitgenommen.
 
 
Morgenstern:               Du bist jedenfalls kein Dieb. Wie ist dein Name?
 
 
Narbengesicht:                      Narbengesicht.
 
 
Morgenstern:               Wohin gehst du?
 
 
Narbengesicht:                      Zur Sonne.
 
 
Morgenstern:               Ich heiße der Frühaufsteher, andere nennen mich auch den Morgenstern. Der Sonnengeist ist mein Vater; komm, ich will dich zu unserer Hütte bringen. Mein Vater ist jetzt nicht zu Haus, aber zur Nacht wird er heimkommen.
 
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Bald kamen sie an die Hütte. Hinter der Hütte lagen auf einem Dreifuß seltsame Waffen und schöne Kleider. Sie gehörten der Sonne. Narbengesicht schämte sich, einzutreten, aber der Morgenstern sagte: »Nur keine Angst, mein Freund, wir freuen uns über deinen Besuch.«
 
Sie gingen in die Hütte. Drinnen saß eine Frau. Sie hieß das rote Licht der Nacht. Sie war die Frau des Sonnengeistes und Morgensterns Mutter. Sie redete Narbengesicht freundlich an und gab ihm etwas zu essen. »Warum bist du von so weit hergekommen?« fragt sie.
 
Da erzählte ihr Narbengesicht von dem schönen Mädchen, das er heiraten wollte.
 
Als die Zeit herankam, da der Sonnengeist heimkehrte, verbarg seine Frau Narbengesicht unter einem Haufen Häute.. Als nun der Sonnengeist auf die Türschwelle trat, blieb er stehen und sagte:
 
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Sonnengeist:                (steht in der Türschwelle)
 
                                        Ich rieche etwas.
 
 
Morgenstern:               Ja Vater. Ein junger Mann ist gekommen. Er will dich sprechen. Man kann ihm vertrauen. Ich habe meine Waffen auf den Weg gelegt, den er gekommen ist, und er hat sie nicht berührt.
 
 
Narbengesicht             (kriecht aus dem Versteck)
 
 
Sonnengeist:              (geht rein und setzt sich)
 
                                        Ich freue mich, dass du in unsere Hütte gekommen bist. Du kannst bei uns bleiben, solange es dir gefällt. Mein Sohn ist manchmal einsam. Sei sein Freund.
 
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Am nächsten Tag rief die Frau des Sonnengeistes Narbengesicht zu sich und sagte zu ihm:
 
»Du kannst mit Morgenstern gehen, wohin du willst, nie aber dürft ihr nahe dem großen Wasser jagen. Lass ihn nicht dorthin. Große Vögel mit langen Schnäbeln hausen dort, sie töten jeden.
 
Lange blieb Narbengesicht bei der Familie und jagte mit Morgenstern. Eines Tages kamen sie an das große Wasser und sahen die großen Vögel.
 
»Komm«, sagte Morgenstern, »wir wollen hingehen und einige dieser Vögel erlegen.«
 
»Nein, nein«, warnte Narbengesicht, »das werden wir nicht tun. Es sind schreckliche Vögel. Sie werden uns töten.« Morgenstern aber hörte nicht. Er lief auf das Wasser zu, und Narbengesicht folgte ihm. Er wusste, er musste die Vögel töten, wenn er den Freund retten wollte. Gelang ihm das nicht, so würde der Sonnengott zornig werden, und dann würde sein letztes Stündlein geschlagen haben. Er lief voraus und traf auf die Vögel, die ihnen entgegenkamen. Er tötete sie alle mit seinem Speer. Morgensterns Mutter war froh, als sie hörte, was geschehen war. Sie weinte und nannte Narbengesicht »meinen Sohn«. Als der Sonnengeist an diesem Abend heimkam, war auch er zufrieden.
 
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Sonnengeist:                Mein Sohn, ich werde dir nie vergessen, was du für uns getan hast. Sag mir jetzt, was ich für dich tun kann.
 
 
Narbengesicht:                      Hab Erbarmen mit mir. Ich bin hier, um dich um Schöne Blume zu bitten. Ich möchte es heiraten. Ich fragte sie, und sie war froh, aber sie sagte mir, sie gehöre dir. Und du hättest gesagt, sie solle nicht heiraten.
 
 
Sonnengeist:                Was du sagst, ist wahr, aber ich gebe sie dir. Ich bin froh, dass sie so klug war. Ich weiß, sie hat nie unrecht getan. Geh jetzt heim. Hör auf mich und sei klug. Ich bin der einzige Häuptling. Alles gehört mir. Ich habe die Erde geschaffen, die Gebirge, die Prärien, die Flüsse und die Wälder. Ich habe die Menschen geschaffen und all die Tiere. Deswegen sage ich: Ich bin der einzige Häuptling. Ich werde nie sterben. Gewiss, der Winter macht mich alt und krank, aber jeden Sommer werde ich wieder jung.
 
 
(Beide stehen auf und gehen an den Rand des Himmels und schauen nach unten)
 
 
Sonnengeist:              Wird ein Mann krank oder gerät er in Gefahr, soll sein Weib versprechen, eine Hütte zu bauen, wenn er gesund wird. Und wenn die Frau rein und ehrlich ist, dann werde ich gnädig sein und dem Mann helfen. Ist sie aber schlecht und verlogen, so werde ich zürnen. Die Hütte soll aussehen wie die Welt, rund, mit Mauern, zuvor aber sollt ihr ein Schwitzhaus bauen. Es soll sein wie der Himmel. Die eine Hälfte sollt ihr rot malen. Das bin ich. Und die andere Hälfte soll schwarz sein. Das ist die Nacht.
 
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Dann erklärte er Narbengesicht alles, was man zum Bau einer Medizinhütte und eines Schwitzhauses wissen muss, und als er damit fertig war, rieb er eine starke Medizin auf das Gesicht des jungen Mannes und sprach: »Dies ist das Zeichen für das Mädchen.
 
Der junge Mann konnte nun heimkehren. Morgenstern und der Sonnengeist gaben ihm viele schöne Geschenke. Der Sonnengeist zeigte ihm einen kürzeren Heimweg. Es war die Milchstraße. Der junge Mann folgte diesem Weg und kam bald auf der Erde an.
 
Es war ein sehr heißer Tag. Alle Leute saßen im Schatten. Der Häuptling war ein sehr großzügiger Mann, und den ganzen Tag über kamen Leute in seine Hütte, um mit ihm zu essen und zu rauchen. Früh am Morgen sah der Häuptling nahebei in einer Senke jemanden sitzen, der seinen Umhang über den Kopf gezogen hatte. Es wurde Mittag, die Sonne senkte sich gegen die Gebirge hin. Als es fast Nacht war, sagte der Häuptling: »Warum sitzt dieser Mensch dort so lange? Geht und bittet ihn herein.«
 
Also gingen einige junge Männer hin und baten ihn mitzukommen.
 
Als sich der Fremde erhob und seinen Umhang abwarf, waren sie alle erstaunt. Er trug schöne Kleider. Seine Pfeile, sein Bogen, sein Schild und all seine anderen Waffen waren seltsam schön und anders als die ihren. Aber sie kannten dieses Gesicht, obwohl die Narbe fort war. Sie liefen voraus und riefen: »Der arme junge Mann mit der Narbe ist heimgekommen. Er ist nicht mehr arm. Die Narbe in seinem Gesicht ist fort.«
 
Alle Leute kamen herbei. »Wo bist du gewesen?«, fragten sie. »Wo hast du all die schönen Dinge her?«
 
Er antwortete nicht. In der Menge stand auch Schöne Blume.
 
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Schöne Blume:                        (steht da)
 
 
Narbengesicht:            (nimmt zwei Rabenfedern aus seinem Haar, gibt sie ihr)
 
                                        Der Weg war lang. Fast bin ich gestorben, aber jemand half mir. So fand ich die Wohnung des Sonnengeistes. Er ist froh. Er schickt dir diese Federn. Sie sind das Zeichen.
 
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Groß war dann die Freude. Sie heirateten und bauten die erste Medizinhütte, so wie es der Sonnengeist ihnen aufgetragen hatte. Die Sonne freut sich. Mann und Frau hatten ein langes Leben.
800 Jahre Anhalt

 
Neue Wege
 
Der Geschäftstermin ist eher beendet, wie geplant. Frank hat bis zur Abfahrt des Zuges noch viel Zeit. Während er mit gesenktem Kopf durch den nasskalten Tag schlendert, denkt er an die freien Stellen in seiner Firma. Er könnte zahllose Aufträge annehmen, wenn er die passenden Leute fände. Die bisherigen Bewerber enttäuschten ihn. Sie hatten weder Kreativität noch künstlerische Ausdrucksstärke gezeigt. Das sind jedoch Grund-voraussetzungen für eine Mitarbeit bei ihm.
 
 
In Gedanken versunken stolpert er über einen Werbeaufsteller. Riesige Buchstaben springen ihm entgegen „Zwischen den Spiegeln – unsere Welt mit meinen Augen“. Er denkt: `Davon hast du erst neulich gehört. So ein Zufall`.
 
Der Verein „Ein Schutzengel für Kinder e.V.“  soll in einer sehenswerten Kunstausstellung Arbeiten autistischer Kinder und Jugendlicher zeigen.
 
Er ist neugierig, betritt das Gebäude.
 
Mit Autisten hatte er noch nie etwas zu tun. Er glaubt nicht, dass sie künstlerisch tätig sein können. Er weiß, dass der Umgang mit solchen Menschen schwierig ist. Er hat gehört, dass sie sich in ihre Welt zurückziehen. Sie sind selten in der Lage, zu kommunizieren.
 
 
Frank geht in den ersten Ausstellungsraum. Er ist irritiert. Die Skulpturen, die er sieht, lassen ihn zweifeln, dass Behinderte sie gefertigt haben.
 
Ihn fesselt eine angemalte Büste. Die Gesichtszüge des braungebrannten jungen Mannes sind ungewöhnlich deutlich herausgearbeitet. Schmale Lippen, eine breite Nase und die schlitzförmigen, leicht zusammengekniffenen Augen erwecken einen fremdländischen Eindruck. Die kurzen dichten Haare formvollendet gegeelt. Die Augen schauen ihn freundlich und offen an. Sein Gegenüber scheint keine Angst zu haben. Frank ist es unheimlich. Als ob die Büste sprechen kann. Viele erfrischende Ideen scheinen im Kopf des jungen Mannes darauf zu warten, verwirklicht zu werden. Er ist überrascht. Die Skulptur gibt ihm Mut, jungen Leuten zuzuhören. Er ist erstaunt, möchte auf sie zugehen.
 
In der Nähe steht jemand, der keinen Eindruck eines Besucher macht. Frank fragt ihn, ob er zum Ausstellungspersonal gehört. Ein Lächeln huscht über das Gesicht „Könnte man fast sagen.“. Es ist einer der beiden Künstler, der die Heranwachsenden wochenlang angeleitet und begleitet hat.
 
 
Frank hört von ihm, dass sie besondere und außergewöhnliche Fähigkeiten besitzen. Ihm war nicht bewusst, dass es seit je her ein gemeinsames Bild-Erleben aller Menschen gibt. Es spielt keine Rolle welcher Herkunft oder Anschauung sie sind. Der Künstler erzählt ihm, dass autistische Menschen besonders gut Barrieren überwinden und aufeinander zugehen können, wenn sie in größeren Gruppen arbeiten. „Sie erkennen, dass sie ihre eigenen Gefühle, Gedanken und Ideen anstelle mit Worten bildlich besser ausdrücken können.“
 
 
Er setzt den Rundgang fort. Die Bilder ziehen ihn ebenfalls an. Plötzlich sieht er in einer unglaublichen Schärfe und Detailtreue das Schaffen von Hundertwasser vor sich. Er ist von den intensiven, leuchtenden Farben gefesselt. Sie folgen keiner Regel und wurden vermutlich instinktiv eingesetzt. Das Bild spricht ihm Mut zu, sich gegen starre Regeln aufzulehnen, etwas Neues, etwas völlig Anderes zu machen. Er spürt die Stärke und Willenskraft des Malers. Er ist beeindruckt. Ihm ist klar geworden, dass jeder Mensch Stärken hat, egal ob gesund oder krank. Man muss sie nur erkennen und fördern.
 
Der Maler hat ihn gefangen genommen. Frank weiß aber auch, dass Menschen oft wegen ihrer Erkrankungen ausgegrenzt sind. Er möchte den jungen Künstler kennenlernen und sich mit ihm austauschen. Vielleicht bietet er ihm eine Mitarbeit an. Das Bauchgefühl sagt ihm, dass er bei dem Künstler noch eine Menge ungenutztes kreatives Potential entdecken wird. Dieses kann er bestimmt in der Firma umsetzen.
 
Da schießt ihm wie aus heiterem Himmel das Ausstellungsplakat in den Kopf. Er findet es komisch, sich gerade jetzt daran zu erinnern, dass Corinna von Anhalt die Schirmherrin der Aktion ist. Er schmunzelt und denkt, sie und Kunst? Er kennt sie bislang nur von ihren Bemühungen um die wirtschaftliche Entwicklung der Region Anhalt.
 
Ihre Aktion hat ihm gezeigt, dass er bei allem unternehmerischem Denken nicht die Menschlichkeit vergessen darf. Ihm ist bewusst geworden, dass behinderte Menschen ebenfalls Fähigkeiten und Stärken haben, die er unternehmerisch nutzen kann. Er muss ihnen nur die Chance geben, sie zu zeigen.
 
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