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Aus meinem Schaffen - Autor und Texter Lutz Sehmisch

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Aus meinem Schaffen

Aus meinem Schaffen
aus "Hölle ohne Himmel"

erschienen im dorise-Verlag 2011
Schattenspuren
 
 
Ich stehe am Fenster und schaue hinaus. Düstere Wolken überziehen den Himmel. Es herrscht graues und schmuddeliges Wetter. Mich lockt es nicht raus. Ich spüre die Ungemütlichkeit und frage mich, ob das nun ein gelungener Start ins neue Jahr sein soll. Heute ist der 2. Januar 1995. Ende vorigen Jahres hatte ich noch die Hoffnung, dass das neue Jahr nur Gutes bringen wird. Nach drei Jahren Wartezeit bekam ich endlich eine Einladung nach Halle zum Gimmritzer Damm Nr. 4. Unter dieser Adresse fand man vor sechs Jahren noch das MfS. Jetzt befindet sich dort eine Außenstelle des Bundesbeauftragten für die Stasiunterlagen.
 
 
Drei lange Jahre habe ich gebraucht, mich selbst zu überwinden. Einen schweren Kampf habe ich mit mir selbst ausgefochten. Zu tief sind die Wunden meiner Seele. Nach wie vor stellen sich mir viele Fragen zu den achtziger Jahren. Bis jetzt habe ich nur vage Vorstellungen und Vermutungen, wer mich damals überwacht hat. Nie konnte ich belegen, woher die Herren der Firma Guck und Horch die intimsten Details aus meinem Leben kannten. Die Antworten hoffe ich, in den Akten der Stasi zu finden. Ich will den Deckel zu diesem Kapitel meines Lebens zuschlagen, abschließen können und Ruhe finden. Mit der Akteneinsicht könnte das gelingen. Dann folgen wieder die Zweifel, das Richtige zu tun. Ich könnte zwar erfahren, warum und wer mir die Wunden zugefügt hat. Im selben Moment stellt sich mir aber die Frage, ob ich sie damit nicht wieder aufreiße. Ich habe große Angst vor den Schmerzen. 1992 habe ich mich endlich durchgerungen einen Antrag auf Akteneinsicht zu stellen. Als Betroffener geht das problemlos. Ich möchte die Antworten auf meine Fragen finden. Der Wunsch nach Rehabilitation oder Wiedergutmachung, wie bei vielen anderen Antragstellern, kommt in mir nicht auf.
 
 
Die Recherche und Aktenaufbereitung durch die Gauckbehörde muss so aufwändig gewesen sein, dass es noch einmal drei Jahre dauerte, bis ich Einsicht nehmen kann.
 
Heute am ersten Arbeitstag im neuen Jahr soll es geschehen. Es beginnt eine neue Woche. Unbekanntes und Neues liegen in der Luft. Es riecht verlockend und frisch. Aber wenn ich dagegen diese graue, stürmische Wirklichkeit sehe, fröstelt es mich. Ich bin mir nicht mehr sicher, die erwartete Gewissheit zu erlangen. Es grummelt gewaltig in meinem Bauch.
 
 
Gegen halbneun mache ich mich auf den Weg. Hetzen brauche ich nicht. Um zehn ist der Termin in Halle. An der Außenstelle der Gauckbehörde angekommen, stehe ich vor einem großen Bürogebäude aus Stahl und Glas. Es leuchtet rot und wirkt auf mich übermächtig. Es strahlt noch immer beängstigend den Geist seiner einstigen Herren aus. Zuvor habe ich diese Gegend noch nie gesehen. Je mehr ich mich dem Eingang nähere, desto furchteinflößender ist die Wirkung dieses Baues.
 
 
Mit zitternden Händen nestele ich das Einladungsschreiben aus der Tasche und reiche es dem Pförtner durch den schmalen Schlitz in der Glasscheibe. Er nickt verständnisvoll. Den Personalausweis will er sehen. Es dauert eine Ewigkeit, ehe ich dieses blöde Ding finde und ihm reichen kann. Dann summt die Tür neben mir. Ich folge der Handbewegung des Mannes hinter der Glasscheibe und betrete den Flur. Ich soll im Wartebereich Platz nehmen. Es komme jemand, der sich um mich kümmern wird. Noch bevor ich auf einem der Stühle Platz nehmen kann, drängt sich mir so ein ganz eigenartiger Geruch in die Nase. Ich rieche noch einmal bewusst. Jetzt erinnere ich mich! Es ist der gleiche muffige Geruch, den ich schon damals bei meiner Verhaftung in der sogenannten Leipziger Runden Ecke wahrgenommen habe. Ich finde merkwürdig, dass rund sechs Jahre nach dem Ende der DDR immer noch Stasidunst durch die Flure wabert.
 
 
Der freundliche Klang einer Frauenstimme, die meinen Namen nennt, reißt mich aus den Erinnerungen. Gott sei Dank! Ich folge der Frau durch einen langen, halbdunklen Flur. Sie führt mich in einen größeren Raum. Sie erklärt mir, dass dies der Leseraum sei. Sie bittet mich um meine Tasche und meine Jacke. "Ja aber ich habe da mein Schreibzeug drin."  " Das glaube ich Ihnen gern. Aber aus Sicherheitsgründen müssen Sie alle persönlichen Gegenstände abgeben. Es ist hier in diesem Raum verboten zu telefonieren oder zu fotografieren. Wenn Sie sich Notizen machen möchten, können Sie dies gern tun. Wir haben Ihnen einen Block und einen Stift am Platz bereitgelegt." Mir bleibt nichts, als mich zu fügen. Eine andere Frau verschwindet mit meiner Jacke und der Tasche wortlos nach nebenan.
 
 
Jetzt stehe ich an dem vorbereiteten Tisch. Dort liegt nur ein Schreibblock und ein Kugelschreiber, parallel zur Tischkante ausgerichtet. Neben dem Tisch steht ein kleiner Rollwagen mit einer Reihe Ordner. Mein Blick schweift durch den Raum. Vier weitere Plätze sehe ich. An einem sitzt ein älterer Herr versunken in die Tiefe des Ordners vor ihm. Der Kopf scheint so schwer zu sein, dass er ihn mit beiden Händen aufstützen muss.
 
 
Die Frau zeigt auf die Ordner und spricht ganz leise zu mir. "Dies sind die aufgefundenen Akten zu Ihrer Person. Sie haben jetzt den ganzen Tag bis 16 Uhr Zeit, darin zu lesen. Aus Datenschutzgründen mussten alle Namen von Personen, die mit Ihrem Fall nichts zu tun haben, geschwärzt werden. Die Decknamen der IM und hauptberuflichen MfS-Angehörigen sind aber lesbar. Wenn Sie Interesse an den Klarnamen haben, können Sie einen Antrag auf Recherche und Entschlüsselung der Decknamen stellen. Das Ergebnis senden wir Ihnen dann per Post zu. Auf dem bereitliegenden Block können Sie sich Notizen zu den Seiten machen, von denen Sie eine Kopie haben möchte. Wenn Sie zwischendurch noch Fragen haben, können Sie die gern stellen. Ich sitze die ganze Zeit dort vorn."
 
 
Viel war es ja nicht, was sie da grad erzählt hat. Aber ich verstehe nur Bahnhof. Irgendwie hatte ich mir das anders vorgestellt. Ich sitze jetzt hier vor meiner Stasiakte und kann darin blättern und lesen. Aber bitte schön unter Aufsicht, damit ja nichts fotografiert oder abgeschrieben werden kann. Ich fühle mich wie damals im Knast. Wenn ich Besuch empfangen durfte, dann nur unter Aufsicht. Automatisch dreht sich mein Kopf Richtung Fenster. Genau, … was ich jetzt erblicke, rundet das Bild noch ab. Die Fenster sind vergittert!
 
 
...



Texte in Anthologien
aus "die beleidigte Zeit"
Lebenskrisen - Gefahr und Chance

Anthologie
erschienen im dorise-Verlag 2021
Hrsg. Dorothea Iser
Pelikan e.V.

Zu schön, um wahr zu sein
 
Severe Acute Respiratory Syndrome – Coronavirus 2, die Abkürzung für SARS-CoV-2 … was sind das für Wortungetüme? So kompliziert  und doch geistern sie mir Tag für Tag durch den Kopf, allerdings in der Kurzform Coronakrise.
Es gelingt mir nicht, mich deren Wirkung zu entziehen. Manchmal will ich einfach nichts mehr davon hören. Es wird mir zu viel. Dann schaue ich aus dem Fenster und sehe eine menschenleere Straße – mitten in der Woche. Und da sind sie wieder, die Gedanken an die Coronakrise.
 
Das Virus hat mein Leben, hat unser aller Leben grundlegend umgekrempelt. Das Leben ist von Hundert auf Null ausgebremst. Keine Konzerte mehr, keine Lesungen, keine Bildungsabende, keine Versammlungen, kein Kino, kein Theater, kein Restaurantbesuch. Zum eigenen Schutz und zum Schutz der Mitmenschen nur die allernötigsten direkten Kontakte und vor allem ABSTAND.
 
Vor wenigen Tagen hätte ich mir das überhaupt nicht vorstellen können. Aber es geht! Ist das nicht irre?
Dabei habe ich mich schon vor ein paar Jahren von den Warnungen der Wissenschaftler überzeugen lassen, dass wir mit unserem umweltschädlichen Verhalten die Erde und unsere Lebensgrundlage selbst zerstören. Doch haben wir uns in unserem Verhalten dadurch ändern lassen? Nein, auch ich nicht. Und auf einmal kommt so ein kleines Virus und stellt die Welt und uns auf den Kopf. Ja, auf einmal kann auch ich
Dinge ändern, die vorher undenkbar waren. Mein Auto benutze ich zum Beispiel nur noch für das Allernötigste. Ich spüre, wie die
Luft sauberer wird. Kein Wunder, es fliegen kaum noch Flugzeuge und die Fabriken blasen auch keine Schadstoffe mehr in die Luft. Das Virus zeigt mir, es geht doch! Aber geht es wirklich? Was macht diese Situation mit mir? Tut mir das alles gut? Durch meine seelische Erkrankung fällt es mir nicht leicht, mit den veränderten Lebensumständen umzugehen. Hatte ich mich doch gerade erst daran gewöhnt, enge soziale Kontakte zu haben, meine Freunde auch zu umarmen, direkten körperlichen Kontakt annehmen zu können, genießen zu können. Und auf einmal ist alles weg,
darf nicht mehr stattfinden. Klar, zum Schutz meiner körperlichen Gesundheit und der meiner Freunde ist das wichtig. Aber es fehlt mir ein wichtiger Teil. Es fällt mir schwer, mein seelisches Gleichgewicht zu halten.
 
Mein Leben ist deutlich langsamer und ruhiger geworden. Und komisch, es scheint mir in gewisser Weise gut zu tun. Mir fällt es leichter, meine eigenen seelischen und körperlichen Grenzen zu erkennen und vor allem zu akzeptieren. Das fühlt sich richtig gut an. Keine Hektik, kein Druck mehr. Mir scheint es nicht nur alleine so zu gehen. Ich habe das Gefühl, dass es vielen gut tut, nicht mehr der Zeit hinterher zu jagen, immer schneller, immer mehr, immer höher …
Plötzlich haben wir Zeit gewonnen, wieder kreativ zu sein. Diese Kreativität bezieht sich dabei nicht nur auf die künstlerische Seite in uns. Wir haben sehr schnell neue Wege gefunden, in Kontakt zu treten. Wahnsinnig viele Dinge sind auf einmal digital möglich. Lehrer unterrichten ihre Schüler via Internet, Regierungen treffen per „Videoschalte“ aufeinander, viele kaufen immer mehr online ein, der Staat ermöglicht eine umfassende Digitalisierung, Familien treffen sich per Videotelefonie.
 
Mal ehrlich, das macht mir dann aber auch schon wieder Angst. Gerade die bisherigen Digitalisierungsschritte waren es, die unser Leben derart BESCHLEUNIGT haben. Und ich frage mich, was passiert nach der Krisenzeit? Die insbesondere in der Krise erzielten Fortschritte lassen sich doch nicht wieder rückgängig machen. Kann ich mit dem neuen Tempo noch mithalten? Oder lasse ich mich dann mitreißen. Jedoch nicht mitzumachen bedeutet für mich, nicht dabei zu sein, ausgeschlossen von der Gemeinschaft zu sein. Will ich das?
Texte und Gedichte
Prosatexte
einzelne alleinstehende Erzählungen
Sommertraum
Ich erwache aus einem tiefen Schlaf und nur langsam entlässt mich die sanfte Hand eines süßen Traumes, erfüllt von Liebe und Zärtlichkeit.
Ich halte meine Augen noch geschlossen. So kurz an der Schwelle zum Erwachen, möchte ich den Traum weiter genießen.
Ich atme tief ein, und entlasse begleitet von einem leisen Seufzer die Luft aus meinen Lungen. Die letzten Bilder meines Traumes beginnen zu verblassen.
Träume von Liebe und Geborgenheit habe ich in letzter Zeit des Öfteren.
Dabei durchströmt mich ein ungewohntes Glücksgefühl. Es beginnt mit einem kribbeln im Zentrum meiner Brust, und wandert dann in den Bauch. Wohlige Wärme breitet sich aus. Das Gefühl ist so neu und anders für mich, wie eine neue Erfahrung eben. Doch ist es ein Traum oder ist es Realität?
Ich drehe mich vorsichtig auf den Rücken. Dabei halte ich meine Augen noch immer geschlossen.
Es ist angenehm warm. Die Luft fühlt sich an, wie eine warme, kuschelige Decke. Ich öffne - vorsichtig blinzelnd - endlich meine Augen.

Ich schaue in einen fast wolkenlosen Himmel. Er strahlt in den schönsten Blautönen.
Ich liege auf einer grünen Wiese, die mit bunten Feldblumen übersät ist. Bienen und Hummeln umschwärmen die Blumen. Das duftende Gras ist an einigen Stellen schon meterhoch. Ich fühle mich wie in einem schützenden Nest.
Über mir hängen die Äste der Bäume. Der Schatten schützt mich vor der Sommersonne. Vereinzelte Sonnenstrahlen dringen durch das Blätterdach, als hätten sie sich verlaufen. Mit einem Lächeln begrüße ich sie. Sie tanzen auf meinem nackten Bauch hin und her.
Die Äste tragen grüne Blätter und weiße, süß duftende Blüten. Der leichte Wind bringt sie in Bewegung. Dabei löst sich hin und wieder eines der vielen Blütenblätter, und segelt tanzend mit dem Wind davon.
Durch das Blätterdach geht ein Raunen. Es hört sich an wie Regen. Aber irgendwie auch wie ein Rascheln, das mich wiederum an ein Flüstern erinnert. So, als wenn die Bäume eine Melodie summen. Leise und nur für mich. Es ist die Melodie dieses Sommers. Meines schönsten Sommers.

Mein rechter Arm droht einzuschlafen. Doch ich möchte ihn nicht bewegen, denn der Grund des Problems liegt dort. Genau auf meinem Arm. Es ist ER, mein Mann.
Ich betrachte IHN. Mein Blick wandert über sein Gesicht. Bleibt an seinen Lippen, die ich so gerne küsse, hängen. ER lächelt, obwohl ER schläft. Ich ahne, wovon ER träumt. Es sind bestimmt die Träume, die auch ich seit Tagen schon habe.
Eine Haarsträhne hängt in seinem Gesicht. Ich streiche sie sanft zur Seite. Plötzlich öffnen sich seine Augen und ER mustert mich mit einem fragenden, leicht verschlafenen Blick. ER lächelt immer noch, und seine blauen Augen leuchten wie der Himmel. Ich lächele zurück. Wir müssen nichts sagen. Wenn wir uns einander tief in die Augen sehen, spüren wir, dass wir uns lieben.
Wir fühlen es auch, wenn wir uns eng umschlungen in den Armen liegen. Wir halten uns gegenseitig fest, damit der Andere nicht verloren geht.

Das ist Liebe. Meine Sommerliebe.


Endlich Urlaub

Endlich Urlaub. Aber was macht man am besten in dieser kostbaren Zeit? Viele haben das Geld, sehr weit in die Ferne zu reisen. Früher habe ich auch oft ferne Länder besucht. Aber jetzt habe ich das Geld dazu nicht. Ehrlich gesagt, zurzeit ist mein Geld so knapp, dass ich gedenke oder viel mehr gedenken MUSS, zu Hause zu bleiben. Doch was stelle ich nun mit dieser vielen freien Zeit an, in der andere das Leben genießen? Zum Beispiel unter Palmen ein köstliches eisgekühltes Getränk zu sich nehmen oder gerade in der Hängematte dösen - so wie ich.
Sicher denkt ihr, was denn nun? Eben sagtest du noch, du verreist NICHT.
Werde ich auch nicht. Ich habe mir nur eine kleine Palme gekauft - steht auf dem Balkon. Eine Hängematte verankert - die passt hier gerade so rein - und ich nippe an einem wunderbar eisgekühlten Getränk.
Es ist himmlisch hier und gleich werde ich im nahe gelegenen Strandbad schwimmen gehen. Ich sage mir, glücklich ist der, der sich glücklich macht! Seht ihr das auch so? Ich kann in ferne Länder reisen und trotzdem nicht glücklich sein. Viele hetzen sich ab, nur um später anderen erzählen zu können, dass sie auch da und dort gewesen sind. Sie kommen nicht selten mit einer übertriebenen Bräune am ganzen Körper zurück. Nur um zeigen zu können, dass sie in südlichen Gefilden gewesen sind. Später sehen sie verfaltet aus, weil das viele "in der Sonne brutzeln" der Haut geschadet hat. Ich könnte sagen, dass ich neidisch bin. Nö, nicht, dass ich wüsste. Und was macht ihr so, ihr Daheimgebliebenen?


Gefühlschaos

Jedes Mal, wenn ich an ihn dachte, hatte ich vielfaches Kribbeln im Bauch. Ich war schon öfter verliebt gewesen, doch dieses Mal war es anders. Ich wäre sogar bereit gewesen für ihn zu sterben. Das war aber totaler Quatsch und ich wusste das auch. Aber eines wusste ich nicht: wie würde er reagieren, wenn ich es ihm sagen würde? Oder ob ich es ihm überhaupt sagen sollte. Klar denken konnte ich da vielleicht noch gar nicht, schließlich war ich erst 16. Doch dieses Gefühl überrumpelte mich einfach. Das schlimmste aber war, dass genau dieser Junge mein aller bester Freund war!! Als wir uns kennenlernten, wusste ich noch nicht was Liebe ist. Oder war ich doch schon reif genug, um so etwas zu wissen? Ich war so furchtbar durcheinander, dass ich kaum noch wusste, was ich überhaupt fühlte.
AM NÄCHSTEN TAG IN DER SCHULE
Heute würde ich genauso wie jeden Tag mit ihm Nachhause gehen und ganz normal mit ihm reden und genauso wie immer lachen, oder nicht? Würde ich es überhaupt schaffen mit ihm zu reden? Am liebsten wäre ich zuhause geblieben! Ich hatte mir doch geschworen, mich nicht in ihn zu verlieben! Ich durfte es einfach nicht. Jungen dürfen sich nun mal nicht in Jungen verlieben. Was waren das für Gefühle, die ich nicht kontrollieren konnte? Ich bemühte mich normal zu bleiben und schaffte es auch bis zu einem Punkt in der Straßenbahn. Ich hielt es nicht mehr aus! Ich sagte ihm was ich fühlte, wie verwirrt ich war und wie gerne ich es doch verschwinden lassen wollte. Doch statt zu antworten, schaute er mich genauso verwirrt an wie ich ihn und kam immer näher. Ich wusste nicht was ich machen sollte und schaute ihn an. Er kam jedoch noch näher. So nah, dass ich seinen warmen Atem spüren konnte. Er war mir noch näher als sonst, wenn wir rumalberten. Er schloss seine Augen und seine Lippen näherten sich meinen. Ich schloss ebenfalls die Augen und ließ zu, dass sich unsere Lippen trafen und zu einem zärtlichen Kuss verschmolzen.
Vielleicht waren wir beide noch zu jung, vielleicht hatten wir beide noch nicht begriffen, was Liebe bedeutet, doch eins wussten wir:
Zusammen würden wir es herausfinden.


Streicheleinheiten

So ein Quatsch, dieses Getue um Streicheleinheiten.
Nein, er brauchte keine Streicheleinheiten, ganz sicher nicht. Streicheleinheiten waren allenfalls etwas für Weicheier, solche die man mit Samthandschuhen anfassen musste, solche, die gleich Tränen in die Augen bekamen.
Zu denen gehörte er aber mit Sicherheit nicht, er war hart im Nehmen, da konnten sich manche ein Stück von abschneiden. Er sagte es allen, die es wissen wollten oder auch nicht wissen wollten.
Dann eben nicht, dachten diese - jedem das Seine - und ließen ihn links liegen.
Nach der Schule ging er also allein nach Hause, den ganzen langen Weg, allein. Jeden Tag. Eine ganze Ewigkeit lang. Aber mit sechszehn sind Ewigkeiten noch nicht so arg lang. Das Ende der Ewigkeit hieß Roland und er schob eines Tages sein Fahrrad neben ihm her, knackte seinen Panzer.
Und bald dachte er nochmals genau über Streicheleinheiten nach, sein Sinneswandel war offensichtlich.
Weichei, so ein Quatsch.


Liebesbrief

Weißt Du noch, wie wir im Sommer 17 im Gras lagen und der Sommer nicht enden wollte? Weißt Du noch, wie wir die Wolken zählten und uns vorstellten, wir würden mit ihnen weiterziehen? Weißt Du noch, wie wir wie Grillen zirpten und im Schilf wie Enten herumflogen? Weißt Du noch, wie wir uns nach dem Bad im See gegenseitig abtrockneten und uns nackt in die Badetücher einwickelten? Weißt Du noch, wie ich zitterte, als ich Dir in jenem Sommer zum ersten Mal mit der Hand über den Bauch und dann über den Po strich? Weißt Du noch, als Du mir sagtest, dass dieser Sommer nur ein Sommer bleiben würde? Weißt Du noch, als wir uns im Spätsommer 17 zum letzten Mal ins Gras legten und ein Bild für die Ewigkeit schufen? Weißt Du noch?



Zwischen den Welten?

Sonntagmorgen, ich stehe im Bad vor dem Spiegel. Geduscht und wieder angezogen, sprühe ich mir eine neue Parfümprobe auf die Haut meines Halses.
Fertig, jetzt aber an den Frühstückstisch. Auf dem Weg dorthin plötzlich Schwindel, kalter Schweiß, Herzrasen, vor meinen Augen verschwimmt alles … Ohnmacht.
Ich wache auf der Couch liegend im Wohnzimmer wieder auf. Neben mir steht ein Mann in orangener Kleidung. Wie ich da hingekommen bin, weiß ich nicht. Der Mann sticht mir eine Kanüle in den Arm und schließt eine Flasche mit Flüssigkeit an. Diese drückt er einem zweiten orangenen Mann in die Hand und hört mich mit einem Stethoskop ab. An meinem Arm pumpt eine Blutdruckmanschette.
„Können Sie aufstehen?“ höre ich den Stethoskopmann fragen. „Wir stützen Sie auf der Treppe und bringen Sie zum Auto.“ Es geht nur mühsam. Meine Beine sind wie Pudding. Auf dem Hof verlassen mich die Kräfte, aber die Männer halten mich und heben mich auf eine fahrbare Trage. Mit verschwommenem Blick sehe ich noch, wie sie mich in einen Krankenwagen schieben. Ich bin erschöpft, schließe meine Augen. Als das Fahrzeug anruckt höre ich noch ein Martinshorn.
Ich wache wieder auf und sehe mich selbst.  Ich liege auf einem Bett. Viele Schwestern und Ärzte stehen daneben. Sie hantieren an Apparaturen. Merkwürdig. Angst habe ich jedoch nicht.
Ich habe auch keine Schmerzen, fühle keine Schwerkraft. Ich bin leicht und ich schwebe. Ich spüre meinen Körper nicht mehr, scheine von ihm losgelöst zu sein.
Bilder der Vergangenheit huschen vorbei. Blitzschnell tauchen sie auf und sind wieder weg. Da ist meine Schwester, meine Eltern, meine Mathelehrerin, das Stasigefängnis, mein Sohn.
Ich fliege wie ein Vogel über eine weite bunte Blumenwiese in den Bergen. Dann ein Tunnel. Er scheint sehr kurz zu sein, denn es wird schnell wieder hell, sehr hell. Am Ende des Tunnels komme ich in einen riesigen Raum mit goldenem Gras, überall Licht, kein Schatten. Das Licht kommt von innen, von außen, von überall. Vor mir erscheint ein Lichtwesen, kann nicht erkennen ob Mann oder Frau, sehe auch kein Gesicht. Das Wesen strahlt nicht nur Licht, sondern auch eine seltsame friedvolle Ruhe aus. Es lädt mich ein, ihm zu folgen und sagt zu mir: „Wenn du es willst, hast du es jetzt überstanden.“
Ich spüre, in eine andere Sphäre hineingeboren zu werden. Ich bin fasziniert von dieser Dimension, bin körperlos und frei. Nichts materielles mehr. Es gibt keine Zeit. Es gibt nur diesen Moment und gleichzeitig die Ewigkeit. Ich sehe keinen Gott, keinen Jesus oder etwas Religiöses, aber da ist etwas. Es ist ein tiefes Vertrauen da, dass alles in Ordnung ist, dass ich wirklich beschützt bin, ich getragen werde. Ich empfinde und erfahre diese göttliche Instanz. Ich fühle seine unglaubliche Macht von Liebe.
Ich höre seine beruhigende Stimme: „Ich weiß, dass du gern bei mir bleiben würdest. Aber deine Zeit ist noch nicht gekommen. Kehre um und fürchte dich nicht, ich bin mit dir. Weiche nicht, denn ich bin dein Gott. Ich stärke dich, ich helfe dir auch, ich erhalte dich durch die rechte Hand meiner Gerechtigkeit.“
Im selben Moment höre ich Stimmengewirr um mich herum. Es ist laut und hektisch, keine Ruhe mehr. Ich spüre Schläge im Gesicht. Eine Frauenstimme wiederholt dabei immer wieder die Frage: „Hören Sie mich?“ Plötzlich ruft sie: „Schnell, schnell wir verlieren ihn, 50 Milliliter Natriumbikarbonat.“ Ich kann die Augen immer noch nicht öffnen. Zu der Dunkelheit kommt auch wieder die endlose Ruhe.
Eine Krankenschwester lächelt mich an. Ich bin aufgewacht. Ich sei auf der Intensivstation, sagt sie.

Ich habe einen Blick über den großen Berg in die jenseitige Welt genommen. Seitdem habe ich keine Angst mehr.



Santiago de Chile

Ich betrachte den Zettel in meiner Hand und bemerke, dass sie zittert. Es ist kalt hier drin, zu kalt. Neben mir steht Sophie. Sie sieht aus, als hätte sie bis jetzt keine Sekunde geschlafen. Auch sie hält einen Zettel in der Hand. Hinter uns drängen sich Menschen. Die Schlange scheint nicht abzureißen. Und das um diese Uhrzeit. Ich blicke in den tiefschwarzen, sternenlosen Himmel hinaus und denke an zu Hause. Ob alle wohlauf sind?
Die Schlange rückt langsam ein Stück vorwärts, und ich kann nun einen Blick auf den Schalter vor mir werfen. Wie Figuren in einem Puppentheater sitzen zwei Männer in Uniform in einem Glaskasten und mustern abwechselnd die Bildschirme vor ihnen und diejenigen, die es bis zum Anfang der Schlange geschafft haben. Neben dem Glaskasten steht breitbeinig und mit seltsam schräg aufsitzender Mütze ein Soldat. Er hält ein automatisches Gewehr in seinen Händen und blickt finster drein. Chile klingt in mir immer noch nach Militärjunta.
Die Schlange bewegt sich wieder. Ich spüre ein Kribbeln auf der Haut, gleich ist es soweit. Ein lautes Piepen aus dieser Richtung ließ mich den Blick zu Sophie wenden.
“Toll, ich habe hier Empfang.”
Sophie kramt in ihrer Handtasche nach dem Handy, fischt es mit zwei Fingern heraus und fährt routiniert in einem Zickzack Muster über das Display.
“Bestimmt will jemand wissen, ob wir schon gelandet sind.”
“Next please!”, ruft eine der Figuren im Glaskasten. Ich greife meine Reisetasche, gehe auf den Uniformierten zu und reiche ihm meinen Pass und den Zettel.
“Your first time here?” Ich nicke. Er betrachtete mich einen Moment und wirft dann einen Blick in meine Papiere.
“Welcome!”
Während er dies sagt, lässt er schwungvoll den Stempel auf eine der noch leeren Seiten meines Passes knallen. Ich werfe dem Mann am Schalter ein breites Lächeln zu und greife meine Tasche.
“Next please!”
Sophie ist an der Reihe. Sie ist nervös. Der Uniformierte bemerkt es zum Glück nicht und lässt sie passieren. Nichts wie weg, denke ich und bin froh, dass die Schiebetür sich hinter uns schließt.






Lyrik


Abschied naht
im Atem des Augenblicks
Rosenblütenduft!
 
 
 
 
 
 
Stille Stunde
Eine Geste berührt mein Herz.
Ein Wort gibt mir Hoffnung.
Erinnerung zaubert ein Lächeln
in mein Gesicht.
 
Die Jerichower Schreibrunde
der Spiegel der Seele...
ist das Wort, als geschriebenes oder gesprochenes,
ist das Handeln eines Menschen

. .
Die Jerichower Schreibrunde wurde vom PELIKAN e.V.-FÖRDERVEREIN FÜR LITERATUR UND NEUE SCHULE initiiert. Ziel ist die Antistigmatisierung von Menschen, die mit  Krankheit bzw. Behinderung leben müssen. Es wird Hilfe gegeben bei Schreibversuchen und literarisch-künstlerischer Gestaltung ihres Konflikts. Ausbruch aus der Isolation.
Wir - Schriftsteller, Künstler und Patienten - treffen  uns  regelmäßig. Vertrauen und Einfühlungsvermögen gehören dazu, Rücksicht und Geduld. Erzählt werden Geschichten, die mit dem eigenen Leben zu tun haben, mit der Krankheit und ihren Folgen. Wie erlebe ich sie und wie reagieren Verwandte, Nachbarn, Freunde und Kollegen darauf? Viele Fragen quälen. Sie sich zu stellen, dazu gehört Mut. Mut braucht auch der, der darüber schreibt. Aber er hilft sich und anderen damit. Wer nicht selber schreiben will. erzählt oder hört nur zu. Es geht um Hoffnungen und Wünsche, um Eltern und Kinder und auch um das Alleinsein. Das geht jeden an.
Das Zauberwort heißt Berührung. Danach suchen alle. Alle, die ihre Geschichten aufschreiben, die ihr Leben erzählen, die sich damit auseinandersetzen, auch ich.
In der Schreibrunde reden wir über Glück und Unglück, über das Vergessen und Vergessenwerden, bereit, den einen oder anderen aufzufangen, wenn ihn sein Unglück einholt, wenn die Stimme versagt, weil Schreckensbilder aufleben.
Das Unglück kann auch Angst heißen. Die Angst hat viele Wurzeln. Der eine fürchtet sich vor dem Tag, der andere vor der Nacht. Einer vor allem, was größer ist als er selber, der andere vor Kellerräumen, Pusteblumen, weißen Kitteln. Jeder von uns könnte diese Aufzählung auf seine Weise fortsetzen. Nicht jeden macht Angst krank. Aber die Krankheit kann jeden treffen.

"Wir müssen achtsam sein mit uns und dem anderen." Das ist die Botschaft.

Seit Januar 2016 habe ich mit Marion Krüger die Leitung der Schreibrunde übernommen. Seit ihrem Bestehen wird sie damit nun das erste Mal von Betroffenen selbst geleitet.

hier geht es zur Webseite der Jerichower Schreibrunde

aus meinen Projekten
Kindsein in Sachsen-Anhalt

Mit diesem Projekt hat der FBK ein tragfähiges Modell in der Zusammenarbeit mit Schulen entwickelt und seit 1996 nachhaltige Akzente im Bildungsprogramm „Kultur in Schule und Verein“ gesetzt.
Im Rahmen von „Kindsein in Sachsen-Anhalt“ entsendet der FBK jedes Jahr 10 Autor*innen an 5 Projektschulen, um mit ausgewählten Schüler*innengruppen literatur- und lesefördernd zu arbeiten. Die Autor*innen haben die Aufgabe, sich mit den Schüler*innen über ihr Aufwachsen auszutauschen, ihnen dabei zu helfen, ihren Gedanken Ausdruck zu verleihen und ihre Zukunftswünsche zu formulieren. Dafür setzen sie vielfältige, auch spartenübergreifende Mittel ein. Die Autor*innen lesen aus ihren eigenen Werken, diskutieren darüber mit den Schüler*innen und fordern sie dazu auf, sich selbst literarisch auszuprobieren. Alltag und Aufwachsen im heutigen Miteinander setzen den thematischen Rahmen für das kreative Schreiben und die Suche nach den eigenen Ausdrucksmöglichkeiten.
Um den Schüler*innen die Auseinandersetzung mit Literatur zu erleichtern, stellen die Autor*innen eine Literaturauswahl zusammen, anhand derer sie die Teilnehmer*innen fordern und fördern möchten. Die Bücher dienen als Anhaltspunkt und Beispiele für die Vielfalt literarischer Gattungen und erweitern den Erfahrungshorizont der Schüler*innen. Der FBK stellt den Projektschulen die Literaturauswahl als Bücherpakete zum Projektbeginn zur Verfügung. So können sie sowohl von den ausgewählten Schüler*innengruppen genutzt werden, als auch nach Projektende von allen Nutzer*innen der Schulbibliotheken.
In das Projekt „Kindsein in Sachsen-Anhalt“ ist nicht nur der jährliche Schreibaufruf „Unzensiert und Unfrisiert“ eingebettet, sondern auch die Landesschreibwerkstatt des FBK. Damit verfolgt der Landesverband das Ziel, seine vielfältigen Angebote der begleitenden literarischen Talentförderung überregional bekannt zu machen und schreibende Kinder und Jugendliche in ihren Lebenswirklichkeiten abzuholen.

2022 werden u.a. Ursula Günther und Lutz Sehmisch an das Internationale Stiftungsgymnasium Magdeburg entsandt.
Projektzeitraum: 2. - 4. Quartal 2022
Dieses Projekt wird gefördert vom Ministerium für Bildung des Landes Sachsen-Anhalt.
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